Düsterbruch - Almstädt, E: Düsterbruch
die Räder.«
»Wie meinen Sie das?«
»Misstrauen«, sagte er. »Verdächtigungen. Böses Gerede. Nehmen Sie als Beispiel Georg Kuhn, Mona Falkes Nachbar in der anderen Doppelhaushälfte. Theo von Alsen hatte ausgesagt, dass er ihn in der Nacht nicht zu Hause angetroffen hat. Georg Kuhn hingegen behauptete, zum fraglichen Zeitpunkt daheim gewesen zu sein. Sein Sohn, der normalerweise bei ihm lebte, war in den Weihnachtsferien bei der geschiedenen Mutter zu Besuch. Also kein Alibi – und er war nicht sonderlich beliebt. So was macht sich schlecht, wenn ein Kind verschwindet.«
»Ich habe schon mit Kuhns Sohn gesprochen. Er ist nicht gerade gut auf das Dorf zu sprechen.«
»Das wundert mich nicht. Irgendwann haben sie wohl dem Druck der Nachbarschaft nachgegeben und sind weggezogen.«
»Stand Georg Kuhn denn ernsthaft unter Verdacht?«
»Nein. Es gab nie irgendwelche Hinweise auf seine Beteiligung an Justinas Verschwinden.«
»Was war mit der Familie Seesen in dieser Zeit? Hatten sie Verbindung zu den von Alsens?«, fragte Pia.
»Die von Alsens und die Seesens waren sich damals nicht besonders grün, aber man hielt in den kleinen Dörfern letztlich doch immer zusammen. Alle in Düsterbruch waren tief betroffen von Justinas Schicksal.«
An Stolzes Blick sah Pia, dass das noch nicht alles gewesen war.
»Im Frühjahr kam der nächste Schock: Ein anderer Bauer, dessen Hof etwas außerhalb von Düsterbruch liegt, hat in einem Graben in der Nähe seines Bauernhofes eine Leiche gefunden. Erst dachte er, da hätte nur jemand seine Schrottkarre entsorgt. Er ist hinuntergeklettert, um nachzusehen, und fand eine stark verweste Leiche in dem Wagen. Es stellte sich heraus, dass der Mann seit Wochen, wenn nicht Monaten dort unten lag. Er muss von der Straße abgekommen und in den Graben gerutscht sein. Er hatte sich den Kopf angeschlagen, sodass er entweder tot oder bewusstlos war. Er starb jedenfalls in seinem Auto. Und das war so unglücklich in den Graben gefallen, dass man es von der Straße aus überhaupt nicht sehen konnte. Diese Tragödie war übrigens kein Einzelfall. In diesem Winter sind mehrere Menschen in Schleswig-Holstein auf die Art ums Leben gekommen.«
»Und wer war der Tote?«, fragte Pia.
»Bert Seesen. Karls jüngerer Bruder.«
»Könnte er etwas mit dem verschwundenen Kind zu tun gehabt haben?«
»Das haben wir auch vermutet, aber es gab nicht den kleinsten Beweis. Er lebte zu der Zeit schon gar nicht mehr in Düsterbruch, sondern hatte den Kontakt zu seiner Familie mehr oder weniger abgebrochen. Für eine Entführung des Babys hätte Bert Seesen Insider-Kenntnisse benötigt. Wo im Haus der von Alsens Justina schlief zum Beispiel oder wie man ungesehen in das Haus hineingelangen konnte. Auch von dem Schmuck aus dem Schließfach konnte er eigentlich nichts wissen.«
»Was wollte er dann in Düsterbruch?«
»Wir vermuteten, dass er auf dem Weg zu seinem Bruder war, als er von der Straße abgekommen und in den Graben gerutscht ist. Gut möglich, dass das während des Schneechaos passiert ist, also in dem Zeitraum, als auch Justina verschwand.«
»Wurde Bert Seesen denn nicht vermisst?«
»Er hat allein gelebt, und seine Freunde waren von der Sorte, die ums Verrecken nicht zur Polizei gehen. Er hatte keine feste Arbeit, und seine Miete hat das Sozialamt bezahlt … Karl nahm damals wie wir an, sein Bruder sei auf dem Weg zu ihm gewesen, als er den Unfall hatte. Manchmal kreuzte er unvermittelt auf, um ihn um Geld anzugehen.«
»Kannte Bert Seesen die von Alsens?«
»Aus seiner Kindheit und Jugend kannte er sie sehr wohl. Er soll für Veronika von Alsen ab und zu kleinere Arbeiten übernommen haben – gegen Bezahlung. Das hat seinen Vater erbost, der natürlich erwartete, dass sein Sohn seine Energie auf den elterlichen Betrieb verwendete. Bert hat den Hof früh verlassen, weil er immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt gekommen ist. Ich hab ihn in seiner Jugend oft im Streifenwagen nach Hause fahren müssen. Karl, der ältere Bruder, war der Kronprinz und Erbe. Bert hat sich für die andere Rolle entschieden.«
»Ich staune, an wie viele Einzelheiten Sie sich noch erinnern«, sagte Pia.
»Das Gedächtnis ist eine komische Sache«, meinte Stolze. »Fragen Sie mich bloß nicht, was es gestern zum Mittag gab. Aber was früher war … Und wissen Sie: Ich bin den Fall Justina in den letzten Jahren immer mal wieder gedanklich durchgegangen. Ellert weiß das. Deshalb hat er sich auch bei Ihnen
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