Düsterbruch - Almstädt, E: Düsterbruch
Helfen eingeplant. Die Gäste sollten von weit her kommen. Anfangs hat den Schnee niemand so richtig ernst genommen. Doch es schneite und schneite. Dann kam der Wind hinzu. Erst als der Strom ausfiel und die Leute wegen der meterhohen Schneeverwehungen ihre Türen nicht mehr aufbekamen, wurde den meisten klar, dass sie ein Problem hatten.«
»Sie erinnern sich wirklich noch sehr gut.«
»Ich habe geschummelt.« Er deutete auf einen Ordner, der auf dem Bett lag. »Ich habe die Artikel über die wichtigsten Fälle meiner Laufbahn alle gesammelt. Außerdem habe ich mir immer noch private Aufzeichnungen gemacht. Das hat mir geholfen, meine Gedanken zu ordnen.«
»Darf ich mir den Ordner nachher von Ihnen ausleihen?«
»Ich freue mich, wenn ich helfen kann.« Er atmete tief ein und aus und setzte seinen Bericht fort: »Justinas Wiege stand im Schlafzimmer der von Alsens im Erdgeschoss. Das Fenster war offen, obwohl es so kalt war. Enno hat als Kleinkind Pseudokrupp gehabt, und beim zweiten Kind, einem recht zarten Mädchen, wollten sie dem vorbeugen, haben sie ausgesagt. Gegen zehn Uhr abends guckte Veronika ins Kinderzimmer, weil sie sich wunderte, dass ihr Kind sich noch nicht zum Trinken gemeldet hatte. Da war die Wiege leer. Sie haben dann das ganze Haus vom Keller bis zum Dachboden durchsucht. Kurz vor Mitternacht wollten sie die Polizei anrufen, aber da war das Telefonnetz angeblich schon zusammengebrochen.«
»Angeblich?«
»Es gab Zweifel. Eigentlich fielen Strom und Telefon in der Region erst später aus …«
»Was taten die von Alsens dann?«
Er zögerte. »Wenn ich mich recht erinnere, hatten sie zu der Zeit zwei große Hunde. Sie befürchteten, dass einer das Baby verschleppt hätte. Theo von Alsen wollte dann mit dem Auto zur Polizei zu fahren, aber er bekam wegen des Schnees nicht mal das Garagentor auf.«
»War es wirklich so schlimm mit dem Schnee?«
»Schlimmer.« Er legte sich einen Finger an die Schläfe, als könnte das die Erinnerungen zurückholen. »Theo von Alsen ist dann zu Fuß bis zu den nächsten Nachbarn gelaufen. Das war Mona Falke, doch die hatte damals noch kein Telefon. Der Mann, der neben ihr wohnte, war angeblich nicht zu Hause. Theo war wohl völlig entkräftet. Er ist später unverrichteter Dinge wieder nach Hause zurückgekehrt. Es hieß, er hätte Herzprobleme gehabt. Und Mona Falke traute sich bei dem Unwetter auch nicht mehr aus dem Haus. Sie war hochschwanger, meine ich. Trotzdem war das damals einer der Punkte, die uns seltsam erschienen.«
»Wann wurde Justinas Verschwinden offiziell gemeldet?«
»Am nächsten Morgen gegen sieben. Veronika ist dann selbst zu Fuß zum nächsten Haus gelaufen. Sie hat nun auch Georg Kuhn, Mona Falkes Nachbarn, angetroffen. Der ist dann weiter zu den Seesens gelaufen. Karl Seesen hat gerade versucht, die Straße vom Dorf bis zur Bundesstraße mit seinem Trecker zu räumen. Der Wind war aber so stark, dass die Straße immer sofort wieder zugeweht ist. Als Seesen hörte, was passiert ist, ist er mit dem Traktor zum Polizeirevier gefahren. Ein vermisstes Kind, ausgerechnet wenn auch ansonsten nichts mehr geht. Es traf an dem Tag sowieso ein Notruf nach dem nächsten bei uns ein. Ich habe lange gehofft, dass das alles ein Versehen wäre und Justina wohlbehalten wieder auftauchen würde. Ich habe nie wirklich an eine Entführung glauben können. Wohin hätte ein Entführer sich denn wenden sollen, in so einer Nacht?«
»Und was denken Sie heute?«
»Am Ende«, er zögerte, »als wir nie wieder was von Justina hörten, als kein Erpresserbrief kam und kein totes Kind auftauchte, da dachte ich, Veronika oder Theo hätten den Tod des Kindes vielleicht selbst verschuldet – ein Unglücksfall – und die Leiche in einem Anfall von Panik weggeschafft.«
Pia dachte einen Moment darüber nach. »Justina von Alsen ist also verschwunden, und bis heute weiß keiner, was mit ihr passiert ist?«
»Kurz darauf haben die von Alsens ausgesagt, dass ihnen in der Nacht auch wertvoller Schmuck gestohlen worden sei. Sie hatten extra für den Ball den Familienschmuck aus dem Bankschließfach geholt. Ich habe das nachgelesen: Ein Bankangestellter hat diese Angabe insofern bestätigt, als Theo von Alsen ein paar Tage zuvor tatsächlich an seinem Schließfach gewesen war.«
»Fand man den Schmuck?«
»Nein. Auch der Schmuck ist nie wieder aufgetaucht. Wissen Sie, wenn in einem so kleinen Ort eine Tragödie passiert, kommt oft die ganze Nachbarschaft unter
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