Düsterbruch - Almstädt, E: Düsterbruch
Zahn im Mund an – hämisch, wie es Pia schien. »Mir doch egal«, sagte sie und kitzelte ihn im Nacken. »Dann gibt’s eben wieder Gläschen. Ich kann auch ohne Gute-Mutter-Gewissen glücklich leben.«
Sie drehte sich um, um einen Lappen aus der Spüle zu fischen, und wäre beinahe auf den glücklichen, aber toten Puten ausgerutscht. Noch mal Shit. Pia rollte großzügig Papier von der Küchenrolle, um zuerst mal den Fußboden zu entschärfen. Während sie kniend wischte, hörte sie nichts … Felix war still. Daran, dass er sich heimlich die Hände abschleckte, konnte es nicht liegen, denn was er einmal für ungenießbar befunden hatte, konnte sie bis über seinen achtzehnten Geburtstag hinaus getrost aus seinem Speiseplan streichen.
Sie sah auf und erstarrte. Das Küchenmesser! Sie musste es neben ihm auf der Küchenarbeitsplatte liegen gelassen haben. Wie war er da rangekommen? Er hielt den Griff in der linken, die Klinge in der rechten Hand und führte das scharf geschliffene Metall geradewegs auf seinen Mund zu. Ruhig Blut.
»Felix«, flüsterte sie. »Felix, das ist nichts für dich. Gib es her!« Sie streckte ihm hoffnungsvoll die Hand entgegen. Er spiegelte sich in der glänzenden Messerklinge. Das Ding war neu und sehr aufregend für ihn. Er würde es nicht loslassen. Ganz die Mama …
Pia richtete sich auf den Knien auf, um sich in eine bessere Ausgangsposition zu bringen. »Felix. Das schmeckt gar nicht. Wie von Mami gekocht. Gib es her.«
Felix streckte prüfend seine Zunge nach der Klinge aus. Pia sah sich mit ihm wahlweise in der Hand- oder Gesichtschirurgie landen. Da öffnete Felix seine rechte Hand und hielt ihr einen Moment die Klinge entgegen. Ohne zu zögern, griff Pia zu und zog ihrem Kind den Messergriff aus der Hand. Sie schleuderte das Messer in die Spüle und nahm seine kleinen Hände in die ihren. Sie waren unversehrt. Das war haarscharf gewesen. Wie hatte ihr das passieren können? Zu blöd, ein Kind zu füttern, oder was?
Sie stand auf, nahm Felix aus seinem Sitz, drückte ihn an sich und setzte sich mit ihm auf den Küchenfußboden. Da nahm sie den Schmerz wahr. Sie betrachtete ihre rechte Hand. Was für ein Traumschnitt in Zeige- und Mittelfinger! Die Haut ließ sich auf- und zuklappen. Sie testete, ob sie die Finger bewegen konnte. Keine Sehnen verletzt. Das Blut tropfte. Wie gut, dass sie schon saß. Wenn sie jetzt umkippte, konnte sie nicht so tief fallen.
Als sie Felix, sich selbst und die Küche einigermaßen gereinigt hatte und ihr Sohn entspannt in seinen Nachmittagsschlaf gefallen war, klingelte das Telefon.
»Pia. Du bist zu Hause? Genießt du deinen freien Tag?«
»Wahnsinnig«, antwortete Pia ihrer Mutter. Der Verband an ihrer Hand suppte durch, und der Schmerz war von schneidend zu pochend übergegangen.
»Ich wollte nur fragen, wann ihr kommt.«
»Wir sind so um sieben bei euch.«
»Du brauchst Felix’ Reisebett übrigens doch nicht mitzubringen. Günther hat heute Morgen selbst noch eines gekauft.«
»Das ist wunderbar. Aber wofür hab ich dann meines?«
»Na, für einen Urlaub.«
Pia erinnerte sich kaum noch an die Bedeutung des Wortes.
»Du bist so still. Was ist denn los?«
Pia berichtete ihr von dem Beinahe-Unfall mit dem Küchenmesser. Nachdem sie ihre Mutter davon überzeugt hatte, selbst keinen Arzt zu brauchen, meinte diese: »Solche Dinge passieren, wenn man Kinder hat. Du kannst deine Augen nicht immer überall haben. Erinnerst du dich, wie mir Nele im Wipper vom Küchentisch auf die Fliesen gefallen ist? Ich dachte, ich sterbe … Oder Tom, wie er als Zweijähriger mit dem Rutscheauto die Kellertreppe runterfuhr?«
»Aber du hattest immerhin drei Kinder zu beaufsichtigen, nicht eins.«
»Und erinnerst du dich, wie Tom im Park im Kinderwagen den Hügel runtergerollt ist und beinahe in einem Wassergraben gelandet wäre?«
»Oh ja.« Sie selbst hatte den Wagen angeschoben.
»Da warst du sechs. Du hast mir erklärt, es sei nicht so schlimm, wir hätten ja schließlich zwei von der Sorte.«
»Ich war eine schreckliche Schwester.«
»Du warst eifersüchtig, Pia. Das kommt bei älteren Geschwistern häufig vor.«
Und es brachte sie auf eine Idee. Nachdem sie das Gespräch mit ihrer Mutter beendet hatte, wählte Pia Broders’ Nummer. »Habt ihr schon mit Enno von Alsen gesprochen?«, fragte sie.
»Das ist die Stimme aus dem Grab … Du hast frei, Pia. Ich sehe dich nicht. Du bist gar nicht da.«
»Broders! Es ist wichtig.«
»Schon gut.
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