Düstere Sehnsucht - Feehan, C: Düstere Sehnsucht - Deadly Game
wie stoisch er war, und ganz gleich, wie sehr er seinen Bruder liebte – es musste qualvoll für ihn sein, in dieses Gesicht zu sehen.
Mari musterte ihn, als er sich im Schatten mit einer Hüfte lässig an die gegenüberliegende Wand lehnte. Sie war sicher, dass er sich dort wesentlich behaglicher fühlte. War ihm klar, dass die Narben dort nicht so deutlich sichtbar waren wie im grellen Licht? Dass sein Gesicht im Halbdunkel fast so schön war wie das seines Bruders? Sie bezweifelte es. Er zog die Schatten wohl nur deshalb vor, weil er darin verschwinden konnte.
»Und Jack kennt diese Briony, von der du behauptest, sie sei meine Schwester?«
Er seufzte. »Du beharrst auf diesen Spielchen?«
»Du bist Soldat, wahrscheinlich bei verdeckten Operationen im Einsatz. Wie viel bist du bereit preiszugeben? Noch nicht einmal deinen Namen, deinen Dienstgrad und deine Erkennungsnummer. In den offiziellen Akten des Militärs existierst du überhaupt nicht, stimmt’s?«
»Ich kenne deinen Namen. Du heißt Marigold. Deine Schwester hat es mir gesagt. Sie bekommt fürchterliche Schmerzen, wenn sie sich an dich zu erinnern versucht, weil Whitney ihr Gedächtnis manipuliert hat. Sie war darauf versessen, dich zu finden. Whitney hat ihre Adoptiveltern umbringen lassen, als sie sich geweigert haben, sie nach Kolumbien gehen zu lassen. Du weißt, warum er wild entschlossen war, sie dorthin zu schicken?« Er wartete ihre Antwort gar nicht erst ab. »Er wollte, dass sie Jack über den Weg läuft. Er wollte, dass sie ihm begegnet, damit er sein neuestes Experiment fortsetzen kann. Er will ein Kind von den beiden.«
Das Herz hämmerte heftig in ihrer Brust, und wieder stieg ihr die Galle in der Kehle auf. Diesmal konnte sie sie nicht zurückhalten. »Ich muss mich übergeben.«
Er kam sofort an ihre Seite und reichte ihr eine kleine
Schüssel. Es war demütigend, so dazuliegen und sich unter seinem durchdringenden Blick die Eingeweide aus dem Leib zu würgen. Sie hätte ihn gern angeschrien, er solle fortgehen und sie allein lassen, damit sie gegen diese Ungerechtigkeit wüten konnte – den Betrug. Sie hatte alles geopfert, damit Briony in Sicherheit war. Alles. Sie hatte ihr steriles Leben ertragen, ein Leben ohne ein Zuhause und ohne eine Familie, und nie gesehen, was sich in der Welt außerhalb des abgesperrten Geländes tat, es sei denn, sie führte einen Auftrag aus; das strapaziöse Training, die Disziplin, die Experimente – all das hatte sie über sich ergehen lassen. Sie hatte es ohne Proteste ertragen, damit Briony woanders ein echtes Leben führen konnte. Das war der Pakt, den sie als Kind mit dem Teufel geschlossen hatte. Er hatte ihr versprochen, wenn sie sich als kooperativ erwiese, könnte Briony ein traumhaftes Leben führen. Sie könnte leben wie im Märchen und alles haben – Liebe, Gelächter, eine Familie. Briony hätte all das haben sollen.
Ken reichte ihr einen feuchten Waschlappen, damit sie sich den Mund abwischen konnte. Sie sah nicht in diese glitzernden Augen. Sie konnte es nicht. Wenn er die Wahrheit sagte – und plötzlich hatte sie den Verdacht, er täte es –, dann war ihr ganzes Leben eine Lüge gewesen, und wenn Ken in dem Moment ihr Gesicht sah, würde er es wissen.
Whitney machte sich nicht das Geringste aus den Soldaten, die er auf seinen Firmengeländen beherbergte. Sie hatte ihm zugesehen, wenn er sie alle im Zuge seiner Experimente beobachtete, und seine kalten Schlangenaugen waren aufgeregt und fanatisch gewesen, wenn er die gewünschten Ergebnisse bekam, und wütend und böswillig,
wenn er sie nicht erzielte. Sie waren nicht wirklich für ihn, keine echten Menschen, nur Versuchsobjekte.
»Haben sie sich in Kolumbien getroffen?« Ihre Stimme war ein Flüstern, ein erstickter Laut, den Tränen zu nahe. Tränen waren eine Schwäche – eine Schwäche, die sich Soldaten nicht leisten konnten. Wie oft hatte sie das als Kind gehört? Soldaten spielten nicht. Das Leben eines Soldaten bestand aus Pflichten, Entbehrungen und dem Erwerb von Fähigkeiten.
»Nein. Ihre Eltern haben sich geweigert, sie hingehen zu lassen, und er hat sie ermorden lassen. Sie kam direkt anschließend hinzu und hat sie gefunden.« Seine Stimme war sanft, als wüsste er, dass er sie mit seinem Bericht verletzte. »Sie hat Brüder, aber wie du braucht auch sie einen Anker. Das enge Zusammenleben ohne Anker war zeitweise die Hölle für sie. Insbesondere als Kind, bevor sie stark genug war, um wenigstens einen
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