Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)
sehen, dass es ganz offensichtliche Brandschäden hatte. Ein großer dreieckiger Teil des Einbands war verkohlt und zerbröckelte.
»Und du meinst, Agrippas komische Buchstaben sind von Paracelsus erfunden worden?«
»Hoffen wir mal«, meinte Elizabeth.
»Warum das Buch wohl verbrannt werden sollte?«, fragte Henry.
»Vater sagt, man habe das alles für Hexerei gehalten«, antwortete ich. »Bestimmt ist das Buch von der Kirche eingesammelt und ins Feuer geschmissen worden.«
»Aber Wilhelm Frankenstein hat es gerettet«, sagte Elizabeth.
»Ihr Frankensteins seid so aufgeklärt«, meinte Henry mit einem nervösen Kichern, und wir alle schauten uns um, als wäre der längst gestorbene Vorfahr immer noch hier bei uns in der Dunklen Bibliothek und beobachtete uns.
Sehr vorsichtig schlug Elizabeth das Buch auf. Die Titelseite zeigte das Bild eines Mannes, doch er war kaum zu erkennen, denn die Seite war halb verbrannt. Nur noch skeletthafte Spuren seines Gesichts waren übrig geblieben. Entweder trug er einen seltsam abgewinkelten Hut oder er hatte einen grotesk verformten Schädel. Eigenartigerweise waren seine Augen immer noch klar. Sie wirkten scharfsinnig und zugleich vertrauensvoll und schienen direkt auf uns gerichtet.
Ich beobachtete Elizabeth und sah, dass das Bild dieselbe beunruhigende Wirkung auf sie hatte, denn ihre Lippen zitterten leicht.
»Er ist wie ein Mann, der auf schreckliche Art verbrannt wurde und nur noch als Geist seines früheren Selbst überlebt hat«, flüsterte sie.
»Aber es ist ohne Frage Paracelsus«, sagte Henry und zeigte unter das Porträt, wo wie auf ein Holzschild gemalt stand: FAMOSO DOCTOR PARACELSVS.
Der Körper des Doktors war durch das Feuer nicht so sehr beschädigt worden. Mit einem Schauder sah ich, dass eine von Paracelsus’ Händen auf dem Rand seines eigenen Porträts auflag und er die Finger über das Schild gekrümmt hatte, das seinen Namen trug. Es war natürlich nur ein Bestandteil des Gemäldes, doch irgendwie sah es so aus, als könnte er ganz einfach aus dem Bild heraustreten.
Wenn er es gewollt hätte.
Ich verdrängte mein Unbehagen.
»Er war ein deutscher Arzt«, sagte Elizabeth und las die winzige Schrift unter dem Bild. »Außerdem Astrologe und Alchemist.«
Äußerst behutsam fing ich an, die Seiten umzublättern, was eine schmerzhafte und herzzerreißende Angelegenheit war, denn viele von ihnen waren durch die Flammen zusammengeschmolzen, und allein durch das Umschlagen wurden sie herausgerissen und seidige Ascheteilchen stiegen auf.
Auf vielen Seiten war wirklich nur noch die untere Hälfte nahe dem Bindungsfalz lesbar.
»So zerstören wir das Buch«, bemerkte Henry bedrückt.
Immer weiter schlug ich die Seiten vorsichtig um.
Bis ich es fand.
»Ist es das?«, fragte ich aufgeregt. Ganz unten auf der Seite war eines der seltsamen Zeichen, die wir in Agrippas Occulta Philosophia gesehen hatten.
»Ja«, sagte Elizabeth und nickte mir zu. »Es ist unverwechselbar.«
»Dann kriegen wir unsere Übersetzung!«, stieß ich hervor. »Wenn Dr. Paracelsus diese Sprache erfunden hat, hat er mit Sicherheit auch eine Übersetzung ins normale Alphabet angelegt.«
Doch als ich die Seite umschlagen wollte, ging das nicht. Das Feuer hatte diese und die weiteren Seiten zu einem dicken Papierklumpen verschmolzen.
»Hör auf!«, sagte Elizabeth. »Sonst zerreißt du es!«
Ich konnte mich gerade noch zurückhalten, das Buch nicht durch den ganzen Raum zu schleudern.
Als könnte sie meinen Zorn spüren, nahm Elizabeth meine Hand und zeigte auf das offene Buch. »Schau mal da«, sagte sie.
Über dem seltsamen Zeichen stand etwas auf Griechisch. Ich kniff die Augen leicht zusammen, wurde aber nicht schlau daraus.
»Das Alphabet der Magier«, übersetzte Elizabeth.
»Aber wir können es nicht entschlüsseln!« Ich stöhnte. »Das Buch ist unlesbar!«
»Aber wenigstens wissen wir, wie dieses Alphabet heißt«, sagte Elizabeth.
Ich nickte und holte tief Atem. »Und jetzt müssen wir jemand finden, der es für uns übersetzen kann. Wir müssen jetzt selbst einen Alchemisten finden.«
Ich schlief nur ein paar Stunden und ging dann nach dem Frühstück hinunter in die Räume der Dienerschaft. Im Gang vor der Küche wartete ich, bis Maria um die Ecke kam und mich sah. Ihr Gesicht überzog ein Strahlen.
»Konrad?«, fragte sie mit einer solchen Freude, dass es mir leidtat, sie zu enttäuschen, und zugleich ärgerte ich mich, denn Konrad war schon von klein auf
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