Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)
besser den Ärzten überlassen?«, meinte Henry.
»Die verdammten Ärzte«, sagte ich. »Die sind doch kaum mehr als Friseure mit Pillen. Die würde ich nicht mal meinen Hund bürsten lassen! Konrad wird mit jedem Tag schwächer. Wir müssen etwas unternehmen.«
»Unternehmen?«, fragte Henry. »Wie sollen wir etwas unternehmen?«
»Für einen mit so reicher Vorstellungskraft bist du manchmal ein bisschen schwer von Begriff, Henry«, sagte ich. »Wir müssen unser eigenes Heilmittel finden.«
Henry sah mich erschrocken an, genau wie Elizabeth, die sagte: »Victor, wir haben deinem Vater versprochen …«
»… dass er uns nie wieder in dieser Bibliothek antreffen würde. Das genau waren seine Worte. Ich habe keineswegs vor, das Versprechen zu brechen. Er wird uns da nicht antreffen .«
»Das ist es aber nicht, was er gemeint hat, und das weißt du genau!«
Ungeduldig winkte ich ab. »Dort befindet sich Wissen, das noch nie ausgetestet worden ist.«
Henry fuhr sich nervös mit der Hand durch die blonden Haare. »Euer Vater hat gesagt, das sei alles Mist.«
Ich schnaubte. »Denkt mal nach, ihr beiden. Die Bücher wurden versteckt gehalten, weil sie den Leuten Angst gemacht haben. Warum? Da muss es doch etwas geben, eine Art von Kraft. Dumme, harmlose Sachen machen den Menschen keine Angst.«
»Aber wenn sie tatsächlich nicht harmlos sind?«, fragte Elizabeth.
»Welche anderen Möglichkeiten haben wir denn?«, wollte ich wissen. »Sollen wir zusehen, wie Dr. Bartonne noch einmal Blutegel anwendet? Oder tote Tauben? Oder sollen wir vielleicht den lieben Dr. Lesage bitten, an seiner Perücke zu kratzen und den Puder einem Fläschchen von Frau Eisners Belebenden Tinkturen beizumischen?«
»Dein Vater …«, begann Elizabeth, doch ich unterbrach sie.
»Mein Vater ist ein großartiger Mann, aber er kann nicht alles wissen. Du hast selbst gesagt, dass er sich auch irren kann.«
Ich hatte das Gefühl, als wäre vor mir eine Tür in die Luft geschlagen worden und ich wäre hindurchgeschritten, um niemals zurückzukehren. Mein ganzes Leben lang war ich davon ausgegangen, dass Vater alles wusste. Ich wollte einfach, dass er alles wusste. Das gab mir Sicherheit. Doch er war so davon überzeugt gewesen, dass die Ärzte Konrad heilen würden – und das hatten sie nicht getan.
»Wir müssen andere Möglichkeiten ins Auge fassen«, sagte ich. »Extreme Zeiten verlangen extreme Maßnahmen. Wir müssen bereit sein, Risiken einzugehen, wenn wir Konrads Leben retten wollen.«
»Glaubst du wirklich, dass es eine Frage von Leben und Tod ist?«, fragte Elizabeth, und ich fühlte mich plötzlich schuldig, denn mir wurde klar, dass sie bisher nicht in diesen Begriffen gedacht hatte – oder es absichtlich vermieden hatte. Sie sah erschrocken aus.
»Ich weiß nur, dass die Ärzte ratlos sind. Und sie machen sich Sorgen.«
Beklommen schaute Henry zu den Bergen des Jura hinüber, doch Elizabeth hielt meinem Blick mit ernster Entschlossenheit stand.
»Die Kirche hat diese Bücher geächtet«, sagte sie.
»Die Kirche hat auch Galileo geächtet, weil er gesagt hat, dass die Sonne nicht um die Erde kreist. Auch die Kirche kann sich irren.«
»Dieser Ort macht mir Angst«, sagte sie.
Henry schluckte und schaute unsicher von Elizabeth zu mir. »Bist du so sicher, dass die verbotenen Bücher eine Antwort enthalten?«
»Ich weiß nur das eine: Wenn ich es nicht wenigstens versuche, werde ich verrückt. Ich kann das keinen Tag länger ertragen. Und ich brauche euch beide«, sagte ich. »Ihr könnt viel besser Latein und Griechisch als ich.«
Ich sah, wie Elizabeth zögerte, dann veränderte sich etwas in ihren Augen.
»Wann?«, fragte sie.
»Heute Nacht.«
»Gut«, sagte sie. »Treffen wir uns eine Stunde nach Mitternacht.«
Kurz nachdem die Kirchenglocke von Bellerive die erste Stunde geschlagen hatte, trafen wir drei uns auf dem Flur und gingen zur Bibliothek. Henry schaute ständig mit vogelähnlichen Kopfbewegungen um sich, versuchte, über den flackernden Schein unserer Kerzen hinauszublicken, als erwartete er, dass sich gleich etwas auf ihn stürzte. Wenn er bei uns im Schloss wohnte, beschwerte er sich oft über ein seltsames Geraschel in der Nacht. Und trotz unserer ständigen Beteuerungen glaubte er noch immer, dass es hier spukte.
»Ich spüre etwas«, flüsterte er. »Ich sag’s dir, hier ist irgendwas.«
»Wir sollten ihm die Wahrheit erzählen«, sagte Elizabeth und zwinkerte mir zu.
»Die Wahrheit
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