Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)
bestimmt werde ich das.«
4. Kapitel
Der Alchemist
Am nächsten Morgen, als Konrad vor sich hin döste, fuhren Henry, Elizabeth und ich mit Vater in der Kutsche nach Genf. Vater hatte im Justizpalast zu tun, und wir drei hatten ihn davon überzeugt, dass wir den Tag damit verbringen wollten, mehr über die Geschichte unserer großartigen Republik zu lernen, indem wir die ältesten Gebäude und Denkmale erkundeten: St. Peter, die Magdalenenkirche, das Rathaus. Das sollte Teil unseres Unterrichts sein.
Vater war natürlich über unseren Eifer erfreut und auch froh, dass wir eine Zeit lang aus dem Schloss und der düsteren Stimmung dort herauskamen.
Als wir uns Genf auf der südlichen Seestraße näherten, bewunderte ich die hohen Festungswälle, die die Stadt in Form eines Sterns schützend umfassten. Es gab nur fünf bewachte Zugänge, die jeden Abend um zehn Uhr geschlossen und deren Fallgatter erst am nächsten Morgen um fünf Uhr wieder hochgezogen wurden. Die Wachen hatten die strengsten Anweisungen, niemals von diesem Zeitplan abzuweichen, selbst dann nicht, wenn es vom Magistrat gefordert würde. Unsere Stadt hatte viele Kriege und Belagerungen erlebt, und die gegenwärtige Zeit war, wie Vater oft sagte, besonders unsicher.
Wir stellten die Pferde und den Wagen in unserem Stadthaus unter, wo sich ständig eine kleine Belegschaft der Dienerschaft befand, auch im Sommer, wenn wir vorwiegend im Schloss wohnten. Vater verabschiedete uns, und wir hatten zugesagt, ihn hier nachmittags um zwei zur Rückfahrt zu treffen.
»Also dann auf zum Rathaus«, sagte ich, nachdem Vater außer Sicht war.
Wir hatten unser Vorgehen noch in der Nacht besprochen und waren uns einig, dass das der sinnvollste Ort wäre, mit unserer Suche zu beginnen. Das Grundbuchamt würde Unterlagen über alle in der Stadt haben, die Grundbesitz besaßen.
Doch als wir den betulichen Rathaussekretär baten, er solle nachsehen, konnte er keinen Eintrag von einem Polidori finden.
»Das sagt uns nur, dass er keinen Grundbesitz hat«, sagte ich draußen auf dem Platz.
»Er kann sehr wohl eine Wohnung gemietet haben«, warf Elizabeth ein.
»Wie viele andere auch«, fügte Henry hinzu.
Unser nächster Schritt war, in den verschiedenen Apotheken nachzufragen. Wenn dieser Kerl so berühmt war, wie Maria gesagt hatte, mussten auch andere von ihm gehört haben. Aber mehrere junge Lehrlinge schüttelten nur den Kopf und behaupteten, nichts von ihm zu wissen.
Ein älterer Mann blickte uns ernst über den Rand seiner Brille an und meinte: »Diesen widerlichen Namen habe ich über viele Jahre nicht mehr erwähnt gehört. Ich weiß nicht, wo er sich aufhält, und es schert mich auch nicht.«
Unsere Suche hatte ungefähr im Zentrum der Stadt begonnen, doch allmählich entfernten wir uns von den eleganten, von Blumen umpflanzten Brunnen und Plätzen. Die gepflasterten Straßen wurden schmaler. Dort gab es weniger vornehme Herren, dafür mehr Matrosen, Arbeiter und Frauen in derber Kleidung. Ich mochte die Blicke nicht, mit denen uns eine Gruppe von Hafenarbeitern bedachte, als wir in einer Gasse an ihnen vorbeigingen.
Langsam fing ich an zu verzweifeln. Wir hatten nun schon in etlichen Geschäften nachgefragt und niemand hatte uns auch nur irgendetwas Brauchbares über Julius Polidori erzählen können.
»Wir sind Idioten«, sagte Henry plötzlich.
Ich wandte mich ihm zu und sah, wie er durch ein verschmiertes Fenster blickte, wo eine Reihe von Schriftsetzern über Tische gebeugt saßen und mit geschwärzten Fingern einzelne Lettern aus flachen Kästen klaubten.
»Der Genfer Anzeiger «, sagte Henry. »Die Geschichte von Maria ist doch sicher aufgeschrieben worden.«
»Bestimmt ist sie das«, bestätigte ihn Elizabeth eifrig. »Das Kind eines Generals! Das muss doch das Stadtgespräch gewesen sein. Victor, hat Maria ein genaues Datum genannt?«
»Sie hat gesagt, es war das Jahr meiner Geburt und dass es Winter war.«
»Jetzt können wir nur noch hoffen, dass die Zeitung ein ordentliches Archiv hat«, sagte Henry.
Als wir das Büro betraten, machte ich mir keine großen Hoffnungen, denn hier herrschte ein Chaos von Betriebsamkeit, Lärm und Druckerschwärze. Zuerst sah es so aus, als hätte niemand auch nur eine Sekunde Zeit für uns, aber Elizabeth suchte sich den am freundlichsten blickenden jungen Mann aus, den sie finden konnte. Sie ging zu ihm und erklärte ihm auf sehr nette Art, dass wir von unserem Lehrer eine historische Aufgabe bekommen
Weitere Kostenlose Bücher