Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)
hätten und ob es vielleicht möglich wäre, dafür ein paar alte Ausgaben der Zeitung einsehen zu können.
Es war wirklich bemerkenswert, wie hilfsbereit der Mann war. Er gab jedem von uns eine Kerze und begleitete uns in einen Keller hinunter. Doch dann überkam mich Mutlosigkeit, denn ich sah Zeitungsstapel neben Zeitungsstapel vom Boden bis zur Decke.
»Wie eine Stadt aus Papier«, flüsterte ich Elizabeth zu.
»Ist es schwierig, genau die Zeitspanne zu finden, nach der wir suchen?«, fragte sie den jungen Mann.
»Überhaupt nicht, mein Fräulein, überhaupt nicht.« Und gleich darauf führte er uns zu einem bestimmten Stapel, stieß seine Hand hinein und zog wie ein Zauberer ein Bündel alter Zeitungen heraus.
»Ich glaube, die könnten richtig sein«, sagte er und strahlte Elizabeth an.
Elizabeth strahlte zurück. »Ganz herzlichen Dank. Sie waren sehr freundlich.«
»Wenn Sie noch weitere Unterstützung brauchen – ich bin oben«, sagte er, nannte uns seinen Namen, verbeugte sich und verschwand.
»Der hat wirklich nach deiner Pfeife getanzt, besser ging’s nicht«, bemerkte Henry erstaunt.
Elizabeth wurde rot.
Wir nahmen uns jeder ein paar Zeitungen vor und sahen sie im Licht unserer Kerzen durch.
Kaum waren einige Minuten vergangen, rief Elizabeth schon: »Hier, ich hab’s! Hier ist die Geschichte …« Sie las laut und hastig, übersprang immer wieder etwas, bis sie zu dem kam, was wir suchten. »›Julius Polidori aus der Wollsteingasse …‹«
»Das ist keine fünf Minuten von hier«, sagte ich grinsend.
Die Gasse stank nach Urin – und Schlimmerem. Die wenigen Geschäfte wirkten heruntergekommen, hatten verschlissene Markisen und schmutzige Fenster mit verstaubten Auslagen, die wahrscheinlich seit Jahren nicht mehr ausgewechselt worden waren.
»Hier muss es sein«, sagte Henry. Die Fensterläden waren geschlossen, doch über der Tür hing ein Holzschild. Die abblätternde Farbe ließ den Mörser und Stößel der Apotheker noch erkennen.
»Sieht nicht gerade vielversprechend aus«, meinte Elizabeth trocken.
In der Tür befand sich ein kleines verschmutztes Fenster, doch innen war es zu dunkel, um mehr als nur die Schatten von Regalen auszumachen. Der Laden wirkte, als sei er aufgegeben worden, aber als ich den Türknauf drehte, schwang die Tür auf und eine kleine Glocke klingelte. Elizabeth, Henry und ich traten ein.
»Guten Morgen!«, rief ich.
Vermischt mit dem Duft von Hunderten verschiedener Kräuter, roch es nach Staub und gewaltig nach Katze. Zu seiner Zeit musste der Laden erfolgreich gewesen sein, denn die Regale waren aus massivem dunklem Holz. Links von uns gab es eine Wand nur mit Schubladen, alle aufwendig beschriftet.
»Hallo?«, rief ich wieder.
Henry zog eine Schublade auf und dann eine weitere. »Leer«, meinte er. Mit großen Augen sah er sich gründlich um. Vielleicht wollte er ja alle Einzelheiten für ein gruseliges Gedicht oder Theaterstück speichern.
Direkt vor uns stand eine große Theke, hinter der sich Regale mit komplizierten Mischgefäßen befanden. Es sah nicht danach aus, als ob hier vor Kurzem noch etwas gemischt worden wäre. Mitten zwischen den Regalen war eine Glastür. Dahinter sah ich ein Licht aufflackern und dann einen Schatten, der größer wurde.
Ganz plötzlich schwang die Tür auf und ein Mann im Rollstuhl schob sich in den Laden. Seine Beine waren verkümmert, der lose Stoff seiner Hose schlotterte herum. Er war wohl nicht älter als fünfzig Jahre, und obwohl sein Oberkörper kräftig gebaut war, wirkte sein Gesicht ausgemergelt und niedergeschlagen. Die Perücke saß schief und war schon viele Jahre außer Mode. Doch es waren vor allem seine Augen, die ihm dieses niedergeschlagene Aussehen gaben. Nicht ein Funke Licht oder Hoffnung lag darin.
Er wirkte überrascht, als er uns sah. Mit Sicherheit kamen nicht viele Kunden in seinen Laden, die so gut gekleidet waren wie wir – wenn überhaupt noch Kunden kamen.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Sind Sie Herr Julius Polidori?«, fragte Elizabeth höflich.
»Das bin ich, mein Fräulein.«
Wir drei tauschten einen schnellen Blick, denn dieser Mann glich so wenig dem Bild, das Marias Erzählung heraufbeschworen hatte. Ein Heiler. Ein machtvoller Mann, der ein kleines Mädchen gesund gemacht hatte, als alle weisen Männer Europas nicht mehr weiterwussten.
Dieser Mann vor uns roch geradezu nach Versagen.
Ich spürte, wie sich in mir instinktiv Verachtung breitmachte. Welche Art von
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