Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)
immer ihr Liebling gewesen.
»Ich bin Victor, Maria«, sagte ich und trat ins Licht.
»Entschuldige, Victor. Du hast mich erschreckt. Einen Augenblick lang hab ich geglaubt, du wärst dein Bruder, frisch und munter …« Sie unterbrach sich selbst. »Ist oben alles in Ordnung? Braucht deine Mutter mich?«
»Nein, nein, es ist alles gut«, antwortete ich. »Tut mir leid, dass ich dich störe, Maria, aber da gibt es etwas, das ich dich fragen möchte.« Ich wartete, bis Sascha, ein Mädchen vom Küchenpersonal, mit einem neugierigen Blick an uns vorbeigegangen war. Mit gedämpfter Stimme sagte ich dann: »Etwas, das sehr vertraulich ist.«
»Ja, natürlich«, meinte sie. »Komm in mein Büro.«
Als Haushälterin bewohnte sie mehrere komfortable Zimmer, von denen ein paar zum See hinausblickten. Sie führte mich in ihr kleines Büro, wo alles Geschäftliche des Haushalts sorgfältig betreut wurde. Sie war eine sehr gewissenhafte Frau, und ich hatte meine Mutter oft sagen hören, dass wir ohne sie vollkommen hilflos wären.
»Worüber möchtest du mit mir sprechen, Victor?«, fragte sie und schloss die Tür. Eigentlich hätte sie mich ›junger Herr‹ nennen müssen, doch sie hatte mich mit aufgezogen, seit ich ein brabbelnder Säugling war, und es wäre seltsam gewesen, von ihr ›Herr‹ genannt zu werden.
»Ich mache mir große Sorgen um Konrad«, fing ich vorsichtig an.
Sie nickte und ihre Augen wurden feucht.
»Ich fürchte, dass die Doktoren nicht wissen, wie sie ihn heilen können«, sagte ich und behielt Maria im Auge. »Und ich frage mich, ob es vielleicht Heiler mit anderen Fähigkeiten gibt, die eventuell mehr Erfolg haben.«
Sie sagte nichts, vermied aber meinen Blick.
»Weißt du, ob es solche Leute gibt, Maria?«
»Nein, das weiß ich nicht.«
Entmutigt lehnte ich mich zurück und versuchte, mir eine andere geschickte Art einfallen zu lassen, wie ich sie fragen könnte, doch da kam nichts.
»Aber ich hab gehört, wie du darüber mit Mutter geredet hast«, platzte ich heraus, »über jemanden, den du kennst. Einen Alchemisten.«
»Du kleiner Gauner! Du hast gelauscht!«, sagte sie, und ich fühlte mich plötzlich wieder fünf Jahre alt und bei irgendeinem Unfug erwischt.
»Von wem hast du da gesprochen?«, bohrte ich weiter.
»Ich habe deiner Mutter versprochen, nichts weiter darüber zu sagen.«
»Zu Vater«, wandte ich ein. »Sie hat dich gebeten, darüber nicht mit Vater zu reden. Aber mir kannst du es sagen, Maria.«
Sie funkelte mich wütend an, dann schaute sie weg. »Du musst mir versprechen, deinen Eltern nichts davon zu erzählen«, sagte sie. »Und ich tu das nur, weil ich mir wegen deines Bruders solche Sorgen mache.«
»Natürlich«, versicherte ich ihr.
»Ich habe wenig Vertrauen zu diesen Ärzten. Ein paar von ihnen können nicht mal ordentlich ihre Haare schneiden, geschweige denn einem Baby zur Welt verhelfen, ohne die Mutter umzubringen.« Sie seufzte. »Vor einer Reihe von Jahren, du und Konrad wart gerade geboren, gab es einen Vorfall. Einer der Generäle der Stadt hatte eine Tochter, nicht älter als sechs Jahre alt, die plötzlich krank wurde. Der General sparte keine Kosten. Er ließ die besten Ärzte von ganz Europa kommen. Alle sagten, es gebe keine Hoffnung mehr und das Mädchen müsse sterben, noch ehe der Winter vorbei sei. Aber die Mutter des Mädchens konnte diesen Gedanken nicht ertragen und machte hier in Genf einen Apotheker ausfindig, von dem manche behaupteten, er sei ein begabter Heiler. Andere sagten, er sei ein Alchemist. Wieder andere meinten, er habe einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Aber die Mutter kümmerte sich um all das nicht. Sie ging zu ihm, er bereitete ihr eine Medizin und das kleine Mädchen wurde gerettet.«
Marias Stimme bebte. Ich holte mein Taschentuch heraus, gab es ihr und zählte langsam auf fünf, während sie sich die Augen abtupfte, doch ich war ungeduldig und konnte nicht länger warten.
»Sein Name«, sagte ich drängend. »Wie heißt der Mann?«
»Julius Polidori.«
Ich hatte noch nie von ihm gehört, was ich eigenartig fand. Genf war zwar eine bedeutende Stadt, aber keine so riesige Metropole wie Paris oder London, und die Position meines Vaters brachte es mit sich, dass er von jedem wusste, der einigermaßen bekannt war.
»Und er wohnt immer noch in der Stadt?«, fragte ich Maria.
»Das weiß ich nicht, Victor. Aber ich denke, das solltest du vielleicht herausfinden.«
Ich lächelte sie an. »Das werde ich. Ganz
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