Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)
kommt …«
»Fünfzig Sekunden«, verkündete Henry.
Auf allen Blättern wurden die Kratzer dicker, ließen Triebe sprießen, die irrsinnig schnell wuchsen. Ich erkannte die eigenartigen Zeichen des Alphabets der Magier und dann darunter ein paar vertraute Buchstaben: die Übersetzung!
»Fünfundfünfzig Sekunden«, gab Henry bekannt.
»Wir brauchen mehr Zeit«, sagte Elizabeth, denn Teile der Seiten waren immer noch nicht lesbar.
»Das können wir nicht riskieren«, fauchte Polidori und hielt seine Pinzetten bereit. »Da!«
Die Seiten fingen an, sich an den Rändern zu kräuseln und wie in Säure aufzulösen. Und die Textteile, die bisher klar zu erkennen waren, begannen gefährlich zu verschwimmen.
Die Uhr läutete. Sofort zog Polidori die Seiten aus der Flüssigkeit und legte sie flach auf einen speziellen Trockenständer.
»Das muss genügen«, meinte er.
»Aber ist es denn genug?«, fragte ich und kniff die Augen in dem gespenstischen Halbdunkel zusammen.
»Es ist ein guter Beginn«, sagte er. »Ein Anfang. Kommen Sie in zwei Tagen wieder. Dann sage ich Ihnen, was ich herausgefunden habe.«
Ich zog meinen Geldbeutel aus der Tasche und wollte ihm Geld anbieten, doch er schüttelte den Kopf.
»Lassen Sie uns damit noch warten, junger Herr. Das kann alles vergebens sein. Warten wir damit.«
»Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen«, sagte Elizabeth. »Vielen Dank.«
Zum ersten Mal lächelte Polidori, als würden ihn diese freundlichen Worte völlig überraschen. Er blickte mich an.
»Ich hoffe, dass Ihr Bruder gesund wird«, sagte er, »und diese ganze Mühe überflüssig macht.«
Schweigend verließen wir Polidoris Laden. Ich hatte das Gefühl, als hätte ich etwas Unglaubliches miterlebt, etwas Gefährliches sogar. Als wir die Gasse hinter uns ließen, kamen mir die Straßen so fremd vor. Die ganzen Menschen, Pferde, Wagen und die Betriebsamkeit hatten nichts mit mir zu tun. Mein Blick war immer noch auf die Seiten des Folianten von Paracelsus gerichtet, auf denen die alten Worte nach Jahrhunderten der Vergessenheit in Sicht geschwommen kamen.
»Es ist, als hätten wir etwas wieder zum Leben erweckt«, murmelte Elizabeth.
Bestürzt blickte ich sie an. »Ja, genau so habe ich das auch empfunden. Da war etwas an dem alten Band … das war nicht nur ein Buch.«
»Es hat gelebt«, meinte Elizabeth schlicht.
»Das hat es wirklich!«, rief ich aus. »Ich hab gespürt, wie es sich in meinen Händen bewegt hat, wie ein Patient, der sich windet.«
»Und hat es nicht auch nach Blut gerochen?«, fragte sie.
»Könnte es nicht sein, dass unsere aufgewühlten Gefühle uns was vorgegaukelt haben?«, warf Henry ein. »Dass wir uns alle diese bizarren Dinge nur eingebildet haben, weil wir sie sehen wollten?«
»Für jemanden, dessen Stift solche leidenschaftlichen Höhenflüge hervorbringt, bist du aber sehr vernünftig«, bemerkte Elizabeth spitz.
»Trotzdem sind das nur Einbildungen«, beharrte Henry. »Keine Wirklichkeit. Wenn wir wirklich glauben, dass sich das Buch bewegt hat, dann glauben wir an … Magie.« Er senkte die Stimme. »Zauberei.«
»Die gibt es nicht«, sagte ich. »Es gibt nur Dinge, die wir noch nicht verstehen. Vater würde das auch so sagen.«
»Dein Vater würde verurteilen, was wir getan haben«, sagte Henry.
Ich schluckte. »Er wird es nicht erfahren.«
»Machen wir uns nicht etwas vor?«, fragte Henry unruhig. »Deinen Vater zu hintergehen ist eine Sache. Doch selbst wenn Polidori das Rezept übersetzen kann, sollte das Elixier dann auch wirklich hergestellt werden?«
»Wenn es Konrads einzige Chance auf Leben ist, ja«, sagte ich. »Und zum Teufel mit den Konsequenzen!«
Henry ließ nicht locker. »Polidori hat selbst gesagt, dass es massenhaft Elixiere gibt und dass ihre Wirkung gefährlich sein kann.«
Ich gab keine Antwort.
»Ich vertraue ihm«, sagte Elizabeth. »Polidori. Er wird uns gut raten.«
Alle drei waren wir überrascht, als wir die Glocken von St. Peter zwei Uhr schlagen hörten. Wir hatten im Labor jegliches Zeitgefühl verloren. Über das Kopfsteinpflaster der Genfer Straßen rannten wir zu unserem Haus, um Vater zu treffen.
Nach dem Abendessen ging ich Konrad besuchen, doch er war schon eingeschlafen. Unser unbeendetes Schachspiel stand noch auf seinem Nachttisch. Seufzend setzte ich mich hin und schaute auf das Brett. Gestern war er doch tatsächlich weggedöst, als ich zu lange gebraucht hatte, um mir meinen nächsten Zug zu überlegen.
Ich
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