Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)
Dosierung ist entscheidend«, erklärte Polidori. »Und Agrippa ist in dem Punkt sehr genau. Aber lassen Sie das meine Sorge sein. Jetzt ist unsere erste Aufgabe, die Flechte zu beschaffen.«
»Wo wächst sie?«, fragte Elizabeth.
»Es ist eine Baumflechte«, antwortete Polidori. »Früher habe ich sie selbst gesammelt, aber« – er deutete auf seine verkümmerten Beine – »das ist nicht länger möglich.«
»Wo finden wir sie?«, fragte ich.
»Wir haben großes Glück. Man findet sie keinen halben Tagesmarsch entfernt von hier. Im Lauf des Jahres wandert sie über den Stamm des Baums, weil sie dem Mond folgt. Und so ist es nicht überraschend, dass sie nur in den Wipfeln der höchsten Bäume wächst.«
»Die höchsten Bäume gibt es im Sturmwald«, bemerkte ich.
Ich kannte diesen Wald gut, der sich auf den steilen Hängen hinter unserem Schloss in Bellerive emporzog. Die Bäume, die sich dort halten konnten, waren stark, denn im Winter wurden sie von schweren Winden gepeitscht. Einige waren sehr groß geworden, und es hieß, sie hätten schon vor Christi Geburt dort gestanden.
»Ich habe hier eine Karte«, sagte Polidori und zog ein Stück Papier hervor, das schon so viele Male zusammengefaltet worden war, dass es fast zerfiel. »Sehen Sie, ich habe sie für den Fall aufbewahrt, dass ich einmal wieder Flechten bräuchte. Hier sind einige Orientierungspunkte eingezeichnet, die Ihnen helfen können, sich zurechtzufinden. An dem Baum, wo ich die Flechte entdeckt habe, habe ich eine Markierung in die Rinde geritzt, aber es gibt natürlich keine Garantie, dass die noch zu sehen ist. Das war vor so vielen Jahren, als ich meine Beine noch gebrauchen konnte.«
Ich blickte wieder auf seine Beine und musste denken, wie schrecklich es wäre, wenn mir diese Freiheit genommen würde.
»Danke«, sagte ich und verstaute die Karte sorgfältig in meiner Tasche.
»Es wird nicht einfach sein«, sagte er. »Obwohl die Flechte den Mond liebt, kann sie nur bei dunkelster Nacht gesehen werden.«
Ich verstand nicht, was er meinte, und schüttelte den Kopf.
»Sie scheint dieselbe Farbe zu haben wie die Rinde, auf der sie wächst«, meinte Elizabeth, die den Stich genau betrachtete.
»So ist es«, antwortete Polidori. »Selbst wenn der Mond noch so hell scheint, werden Sie die Flechte nicht wahrnehmen können. Doch in der Finsternis werden Sie sie sehen.«
»Wieso das?«, fragte Henry
»Sie gibt ein sehr schwaches Glühen von sich«, erklärte Polidori. »Aber Sie müssen sicher sein, dass kein Mondschein, welcher Art auch immer, vorhanden ist. Nur so werden Sie sie finden.«
»Wie viel müssen wir einsammeln?«, fragte Elizabeth.
Polidori gab ihr ein Glasfläschchen in einem Lederpolster. »Das müsste genügen.«
Ich schaute abwechselnd Elizabeth und Henry an. »Na, das klingt ja ganz einfach« sagte ich sarkastisch. »Wir müssen bei totaler Dunkelheit einen Weg durch den Sturmwald suchen, den höchsten Baum erkennen, hinaufklettern und dann oben in der Baumkrone die Flechte finden.«
»Hast du die Bäume im Sturmwald gesehen?«, fragte mich Henry. »Viele haben bis zur Höhe von vielleicht zehn Metern nicht einmal Äste.«
»Sie brauchen bestimmt ein Seil«, bemerkte der Apotheker.
»Wie kann jemand bei totaler Dunkelheit auf einen Baum klettern und dabei eine Laterne halten?«, wollte Henry wissen. »Da braucht man zwei freie Hände.«
»Herr Polidori hat es gemacht und wir können es auch«, fauchte Elizabeth ihn mit blitzenden Augen an.
»Aber Ihr Freund hat recht«, sagte Polidori. »Bei Nacht auf einen Baum zu steigen, ist eine verzwickte Sache. Eine Fackel würde den Baum in Brand setzen und eine Laterne ist zu sperrig. Ich habe hier etwas, das vielleicht von größerem Nutzen ist.« Er gab mir eine dicke, gepolsterte Tasche.
»Was ist das?«, fragte ich.
»Die Zutaten für ein einfaches Präparat. Ich würde es ja selbst anmischen, doch seine Wirksamkeit ist kurz, und es muss wenige Stunden nach seiner Zubereitung angewandt werden. Die Anweisungen habe ich aufgeschrieben, sie befinden sich hier drin. Und es wird Ihre nächtliche Unternehmung sehr viel einfacher machen.«
Ich bemerkte, wie mich Elizabeth und Henry unsicher anblickten.
»Steckt da irgendein Teufelswerk dahinter?«, fragte Henry misstrauisch.
Polidori lachte. »Guter Herr, weder der Teufel noch die Engel haben irgendeinen Anteil an meiner Arbeit.«
»Was genau bewirkt denn die Mixtur?«, fragte Elizabeth.
»Sie gibt Ihnen«,
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