Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)
antwortete Polidori, »die Sicht des Wolfs.«
Als wir aus der Stadt zurückgekehrt waren, ging ich an Dr. Murnaus Räumen vorbei und sah, dass die Tür zum Labor einen Spalt offen stand.
Ich steckte meinen Kopf hinein, konnte den Doktor aber nirgends entdecken. Doch auf einem langen, auf Böcken stehenden Tisch befanden sich eine große Ansammlung von Apparaten und dazwischen ein offener Kasten voller Metallnadeln unterschiedlicher Länge, die im Licht glitzerten. Wie magisch angezogen trat ich näher heran. Die Nadeln waren hohl und ihre Spitzen waren noch spitzer als der Giftzahn einer Schlange.
Mein Blick wanderte über den Tisch bis zu einem Gestell, in dem sich sechs schlanke, verstöpselte Phiolen mit rubinrotem Blut befanden. In flachen Glasschüsselchen war noch mehr rote Flüssigkeit. Konrads Blut. Es war überall.
Mich fröstelte. Als ich zu Elizabeth gesagt hatte, der Doktor sei wie ein Vampir, war das halb im Scherz gewesen, doch jetzt war ich mir nicht mehr so sicher. Warum sollte jemand das Blut eines Menschen sammeln?
»Möchten Sie einen Blick hineinwerfen?«, fragte eine Stimme und erschrocken drehte ich mich um. Fertig umgezogen zum Abendessen, tauchte Dr. Murnau aus seinem Schlafzimmer auf.
»Es tut mir leid, dass ich hier eingedrungen bin, Herr Doktor«, sagte ich, aber sein hageres Gesicht zeigte keine Spur von Ärger.
»Sie scheinen ein wissbegieriger junger Mann zu sein«, meinte er. »Kommen Sie her. Ich zeige es Ihnen.«
Dicht beim Fenster war ein eindrucksvolles Mikroskop aufgebaut. Der Spiegel war so eingestellt, dass er das Licht einfing und das Objekt beleuchtete. Unter der Linse lag eine dünne Glasscheibe mit einem kräftig roten, verschmierten Fleck in der Mitte.
»Das ist Konrads Blut«, sagte ich.
»Bitte.« Mit einer Bewegung seiner knochigen Hand bedeutete er mir, durch das Okular zu blicken.
Ich beugte mich darüber, schloss das eine Auge … und war verblüfft. Vor mir tat sich eine lebende Welt auf. Rundliche Objekte bewegten sich umher und prallten zusammen. Während ich sie beobachtete, drückten sich einige in der Mitte zusammen und wurden zwei, andere klammerten sich aneinander, bis eines verkümmerte und starb.
»Das alles ist in seinem Blut?«, fragte ich entsetzt.
»Bei Ihrem Blut würde es nicht anders aussehen.«
»Was ist das denn und was machen Sie?«
»Ah.« Er hob die Augenbrauen. »Ich werde Ihnen allen heute Abend meine Gedanken mitteilen.«
Ich sagte nichts mehr und blickte in das Mikroskop. Es schien so, als wären wir alle Gastgeber für zahllose Millionen von Organismen, alle mit einer eigenen komplizierten Intelligenz.
»Faszinierend, nicht wahr?«, fragte er.
Ich nickte und schaute weiter. Die Welt war voller Geheimnisse und ich wollte sie alle entdecken.
»Ist sein Blut normal?«, fragte ich.
»Nein.«
Schnell blickte ich zu ihm auf. »Sie können es aber wieder normal machen?«
»Das hängt von weiteren Untersuchungen ab«, sagte er. »Und es muss zwischen Ihrem Vater und mir besprochen werden.«
»Natürlich.« Ich richtete mich auf.
»In Zukunft, Victor, muss ich Sie bitten, mein Labor nicht mehr zu betreten, es sei denn, ich bin hier. Meine Gerätschaften sind empfindlich. Wir sehen uns dann beim Abendessen«, sagte er, und mir wurde klar, dass ich entlassen war.
Ich ging in mein Zimmer, um mich umzuziehen.
»Ich denke, dass Ihr Sohn eine selbst erzeugte Anomalität des Blutes hat«, sagte Dr. Murnau.
Es war nach dem Abendessen. Justine hatte William und Ernest ins Kinderzimmer gebracht und die restliche Familie hatte sich ins westliche Wohnzimmer zurückgezogen. Ich schaute hinüber zu Elizabeth und Henry, dann zu Mutter und Vater, und es war klar, dass sie alle gleich begierig darauf waren, was der seltsame Arzt als Nächstes eröffnen würde.
»Blut ist eine unglaubliche Substanz«, erklärte er, während er ein Glas Portwein von Vater gereicht bekam. »Es ist nicht einfach nur eine Flüssigkeit. Sehen Sie es eher als eine flüssige Großstadt. Pulsierend vor Aktivität.«
»Aktivität welcher Art?«, fragte Mutter.
»Das Blut ist voll mit dem, was ich Zellen nenne, Madame Frankenstein. Winzige, eingeschlossene Abteilungen – unsichtbar für das bloße Auge –, in denen alle möglichen wichtigen Arbeiten erledigt werden. Die Zellen sind wie lebende Maschinen, die völlig ohne unser Wissen oder unseren Willen ihrer Arbeit nachgehen.«
Keiner meiner Lehrer war je so begeistert von seinem Unterrichtsstoff gewesen. Es
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