Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)
hatte eindeutig etwas Hypnotisches, wie dieser eigentümliche, leichenblasse Mann sprach. Ich hing an seinen Lippen und wollte unbedingt mehr über diese mikroskopische Welt wissen, auf die ich vorhin in seinem Labor einen Blick hatte werfen können.
»Es gibt so viele von diesen Zellen«, fuhr er fort, »dass ein Mann sein Leben lang damit verbringen könnte, sie zu beobachten, und sie immer noch nicht alle versteht. Was ich aber weiß, ist Folgendes: Nahezu alle dieser Zellen verrichten eine lebensnotwendige Arbeit, um unseren Körper gesund zu erhalten. Einige transportieren Nährstoffe. Einige bekämpfen Krankheiten. Einige senden Botschaften, um andere Zellen anzufeuern, aktiv zu werden.« Er unterbrach sich, um seine Brille auf der Nase zurechtzuschieben. »Manchmal allerdings produziert der Körper aus einer Laune der Natur Zellen, die so geschaffen sind, dass sie eben diesen Körper zerstören.«
»Ihn selbst zerstören?«, murmelte Elizabeth.
Es war eine erschreckende Vorstellung, dass sich unser Körper gegen uns wenden könnte.
»In Konrads Blut«, sprach Dr. Murnau weiter, »habe ich viele bösartige Zellen festgestellt, die Unfrieden stiften, und ich nehme an, dass sie die Ursache für sein auszehrendes Fieber sind.«
Unfrieden stiften . Bei ihm klang das so harmlos wie ein Spiel von Kindern.
»Gibt es dafür ein Heilmittel?«, fragte Mutter und hatte die Finger fest um ihr Weinglas geschlossen.
Dr. Murnau räusperte sich. »Die Krankheit ist selten, doch ich habe bereits früher erfolgreich eine Behandlung entwickelt.«
Mir fiel zwar auf, dass er nicht von einer »Heilung« gesprochen hatte, aber ich hielt den Mund.
»Mit den Proben, die ich entnommen habe, hoffe ich, ein Präparat herstellen zu können, das die bösartigen Zellen bekämpft.«
»Haben Sie irgendeine Vorstellung davon, wie lange das dauern wird?«, fragte Vater.
»Für die Vorbereitung brauche ich noch zwei oder drei Tage. Und die Behandlung selbst wird etwa eine Woche in Anspruch nehmen, wenn ich die Medizin in seine Adern spritze.«
»In seine Adern?«, fragte ich und dachte mit einem Schauder an all die Nadeln.
»Oh ja, das ist der direkteste Weg«, antwortete Dr. Murnau und leckte sich über die Lippen.
Meine Eltern warfen sich gegenseitig einen Blick zu. Dann nahm Vater Mutters Hand und nickte.
»Also gut, Herr Dr. Murnau«, sagte Mutter. »Bitte machen Sie so schnell wie möglich weiter.«
Ich fragte mich, wie sehr meine Eltern Murnau vertrauten. Waren sie voller Hoffnung? Oder hielten sie seine Behandlung für genauso wenig vertrauenswürdig wie eine Rezeptur aus einem alchemistischen Buch?
Drei Tage später begann Konrads Behandlung.
Neben seinem Bett befand sich ein Metallständer. Daran hing, mit der Öffnung nach unten, eine verschlossene Glasflasche. Sie war mit irgendeiner Art klarer Flüssigkeit gefüllt – der speziellen Medizin, die Dr. Murnau zusammengebraut hatte. Vom Gummistopfen der Flasche aus schlängelte sich ein langer Schlauch herab, der mit einer bis in die Spitze hohlen Nadel verbunden war. Die wiederum war eng am Unterarm meines Bruders befestigt. Ihre Spitze war durch die Haut gestoßen worden und führte in eine seiner Adern. Irgendeine geniale Vorrichtung ließ die Flüssigkeit nur langsam tropfen und sich nach und nach mit seinem Blut vermischen – Minute für Minute, Stunde für Stunde.
Dr. Murnau hatte meinem Bruder einen kräftigen Schlaftrunk verabreicht.
Zwei Tage lang lag Konrad im Bett, ganz still und blass wie der Tod.
Morgen Abend, bei Neumond, wollten wir unsere Unternehmung in den Sturmwald starten.
6. Kapitel
Der Sturmwald
Im Bootshaus, wo sich das gewaltige Fundament von Schloss Frankenstein schwarz glänzend aus dem See erhob, gab es eine schwere Tür, die zusätzlich noch mit eisernen Bändern verstärkt war. Sie wurde immer verschlossen gehalten, doch schon vor langer Zeit hatten Konrad, Elizabeth und ich den in einem Mauerspalt versteckten Schlüssel gefunden.
Es war schon später Nachmittag, als ich den Schlüssel nahm und die Tür aufschloss. Der feuchtkalte, üble Geruch der Kerker wehte mir entgegen. Vor Hunderten von Jahren waren die gefangenen Feinde der Familie Frankenstein in Ketten hierher geschleppt worden. Ich trat ein, zündete meine Laterne an und schloss die Tür hinter mir.
Zehn steile Stufen führten mich hinab in einen engen Gang. Auf jeder Seite lagen sechs Zellen, deren Türen jetzt offen standen. Ich ging von Zelle zu Zelle und leuchtete mit
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