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Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)

Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)

Titel: Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
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scharf die Luft ein und kratzte wie verrückt weiter an der Rinde. »Ich hab gelesen«, sagte sie mit bebender Stimme, »dass das Weibchen sich oft zwei Männchen aussucht, und die drei teilen sich dann das Nest und beschützen die Jungen.«
    Einer der Geier sprang auf den Nestrand. Sein Kopf schnellte von einer Seite zur anderen. Ich öffnete die Scheide meines Dolchs.
    Keine hundert Meter entfernt schlug ein zuckender Blitz in einen Baum ein, der sofort in Flammen aufging.
    »Wir müssen hier weg!«, schrie ich.
    »Das Fläschchen ist noch nicht voll!«, schrie sie zurück.
    »Das muss reichen! Komm jetzt!«
    Sie stieß den Kork in das Fläschchen und steckte es in eine Tasche ihrer Reithose.
    Ich kletterte voraus und hielt mich so weit wie möglich vom Nest entfernt. Der Geier auf dem Rand behielt uns genau im Auge, bewegte sich aber nicht. Wir waren nun wieder auf genau gleicher Höhe mit dem Nest. Die Äste waren vom Regen glitschig, und mir wurde plötzlich bewusst, dass ich genau hinsehen musste, um sie zu erkennen.
    »Victor«, flüsterte Elizabeth aufgeschreckt. »Meine Augen …!«
    Ich schaute in Richtung ihrer Stimme und erschrak, als ich sie nur noch als Schatten wahrnahm.
    »Der Wolfsblick lässt nach«, sagte ich. »Schnell!«
    Unser Nachtblick verging so rasch, wie er gekommen war. Plötzlich war ich nahezu blind, nicht länger ein Wolf.
    Ich hörte, wie sich Elizabeth näher an mich heranschob, dann hörte ich ein anderes Geräusch. Das rauschende Schlagen der Schwingen eines großen Vogels. Grausiger Gestank umwaberte uns.
    Ein gewaltiger Blitz erhellte die Nacht. Und da, wie in den Himmel gebrannt, war für einen winzigen Augenblick ein bärtiger Geier zu sehen, der vom Ast über uns boshaft auf uns herabschielte.
    Dann war es wieder stockfinster und mit dem ohrenbetäubenden Donner spürte ich einen stechenden Schmerz in meiner Hand. Ich fluchte, riss meine Hand aus dem Schnabel des Geiers – und verlor das Gleichgewicht. Wild griff ich um mich und schaffte es gerade noch, einen anderen Ast zu packen, um nicht vom Baum zu stürzen.
    »Victor?«, schrie Elizabeth auf.
    »Alles klar, komm weiter runter!«, rief ich.
    Tastend gelangte ich auf den nächsttieferen Ast, dann auf noch einen und fing nun an, mich zum Stamm zurückzuarbeiten. Ich konnte Elizabeth keuchen hören und wusste daher, dass sie dicht bei mir war.
    Der Sturm tobte nun direkt über uns. Die Blitze zuckten einer hinter dem anderen auf und ich sah alles nur noch in gespenstischen regenverschmierten, starren Sekundenbildern:
    Der Geier über uns, der Anstalten machte, uns zu folgen.
    Elizabeth, die entsetzt auf etwas unter uns starrte.
    Ein zweiter Geier, der zwei Äste weiter unten hockte, den Schnabel zu einem lautlosen Kreischen geöffnet, denn bei dem teuflischen Donner war sonst nichts zu hören. Der gesamte Baum bebte und ich klammerte mich entsetzt an seine regennassen Äste.
    »Victor!«, schrie mir Elizabeth ins Ohr. »Da ist einer unter uns!«
    »Ich weiß!«, schrie ich zurück.
    »Die versuchen, uns vom Baum zu drängen!«
    »Komm hierher! Drück dich mit dem Rücken an den Stamm!« Ich rutschte etwas zur Seite, um ihr Platz zu machen, und zog den Dolch aus der Scheide. Dann hakte ich meinen freien Arm um einen Ast und hoffte auf mehr Blitze.
    Lass mich etwas sehen. Lass mich sehen, wenn sie kommen.
    »Victor!«, durchdrang Henrys verzweifelter Schrei die Donnerschläge. »Hier unten schleicht etwas herum!«
    »Zünde noch eine Laterne an!«, schrie ich zurück.
    Das Unwetter war nun so nahe, dass Blitz und Donner gleichzeitig kamen. Ein gewaltiger gleißender Einschlag in dem Baum neben uns. Holz splitterte und eine Wolke aus Rauch und Feuer stieg auf.
    Da hatte ich mein Licht!
    Und gerade noch rechtzeitig. Mein Ast schwankte, und der Geier, der eben noch unter uns gehockt hatte, saß nun direkt neben mir. Er breitete die Schwingen aus und stürzte sich auf mich. Ich stach schnell mit dem Dolch zu und traf ihn in die Brust. Der Vogel kreischte auf, doch bevor ich noch zurückweichen konnte, versetzte er mir mit dem Flügel einen gewaltigen Schlag auf den Arm und drosch mir den Dolch aus der Hand, der wirbelnd zur Erde fiel.
    Von unten schrie Henry hysterisch: »Victor! Elizabeth! Da klettert was den Baum rauf zu euch!«
    Der Geier auf meinem Ast kam wieder näher gehüpft. Ich fletschte die Zähne und brüllte ihn an. Und vielleicht war noch ein bisschen von dem Wolf in mir zurückgeblieben, denn der Vogel wich zischend

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