Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)
daran, dass wir vielleicht einfach hindurchklettern könnten. Doch die Antwort kam mit einem Windstoß: Der wider-liche Geruch von frischem Vogelkot und herausgewürgtem Fleisch verschlugen mir den Atem.
Von unten schrie Henry plötzlich: »Wie geht es euch? Seid ihr schon oben?«
»Pst!«, rief ich zurück.
In dem Nest raschelte etwas.
»Wir können um das Nest herumklettern. Da, schau«, sagte Elizabeth.
»Das ist heikel«, meinte ich. Das würde uns ziemlich dicht ans Nest heranbringen, dichter, als mir lieb war, und die Äste waren dort kürzer und dünner. Der Wind hatte zugenommen, und es erschien mir, als wäre der Himmel noch dunkler geworden, wenn das überhaupt möglich war. Ich sah die fernen Lichter von Genf, und dann waren sie plötzlich ausgelöscht, als große Wolkenfetzen auf uns zutrieben.
»Da kommt ein Sturm«, sagte Elizabeth.
Ich nickte. »Wir müssen uns beeilen.«
Hastig kletterten wir um das Nest herum, wobei wir so weit wie möglich Abstand von ihm hielten. Wir waren nun ziemlich weit vom Stamm entfernt, und mir fehlte die Sicherheit, die er uns gegeben hatte. Hier draußen auf den dünneren Ästen gäbe es nicht viel Halt, wenn wir abrutschen sollten.
Nach unten wäre es ein Sturz von über dreißig Metern gewesen.
Ein paar eisige Regentropfen trafen mein Gesicht.
»Wie geht’s dir?«, fragte ich Elizabeth flüsternd. »Willst du runter?«
»Auf keinen Fall«, erwiderte sie. »Jetzt mach schon!«
Wir waren nun bei dem Nest angelangt, und als wir schnell daran vorbeikletterten, ließ mich ein schauerliches Kreischen erstarren. Ich sah einen Kopf über dem Rand auftauchen.
Aber was ich sah, war kein Adler.
Ich dachte nur: Vogel Greif .
Ein großes, zorniges Auge blitzte auf und ein langer, bösartiger Schnabel öffnete sich. Unterhalb seines Schnabels sträubten sich dunkle Borsten. Hals und Schultern waren mächtig und vermittelten den Eindruck von ungeheurer Kraft. Nachts waren keine Farben zu erkennen und ein Wolf kann sowieso keine sehen, nicht so wie der Mensch. Doch es kam mir vor, als würde ein leuchtend oranges Fell von schwarzen Federn verdeckt.
»Ein Lämmergeier«, sagte ich.
Er breitete seine Schwingen aus, und es schien ewig zu dauern, bis sie ihre volle Spannweite erreicht hatten. Zwei Meter, drei – ich war mir nicht sicher. Im auffrischenden Wind blähten sie sich auf wie Segel. Dann faltete der Vogel die Schwingen wieder zusammen und legte sie eng an. Ein Schlag mit diesen Flügeln würde uns vom Baum fegen.
Mit gezwungener Zuversicht flüsterte ich: »Er kann in der Dunkelheit sicherlich nichts sehen.«
Über dem See und den Bergen wurden die Wolken durch ein grelles Bündel von Blitzen erleuchtet und in diesem Sekundenbruchteil hoben sich Elizabeth und ich gestochen scharf gegen den Himmel ab.
»Ich glaube, jetzt hat er uns gesehen«, sagte ich.
»Er wird sein Nest nicht verlassen«, flüsterte Elizabeth. »Sein Instinkt befiehlt ihm zu schützen, nicht anzugreifen.«
Ich war froh, dass Elizabeth dem Unterricht meines Vaters so aufmerksam gefolgt war. Ich konnte mich an nichts Derartiges erinnern.
Zögernd und langsam kletterten wir weiter hinauf zum Baumwipfel, den wir keine fünf Meter über dem Nest erkennen konnten. Ich versuchte, den Geier unter mir nicht weiter zu beachten, und suchte die Rinde nach der Flechte ab.
»Hier!«, sagte Elizabeth.
An der südöstlichen Seite entdeckten wir einen kleinen Fleck. Selbst mit unserem Wolfsblick war das Glühen nur sehr schwach wahrzunehmen. Ich zog das gepolsterte Fläschchen und eine Pinzette aus der Hosentasche und gab beides Elizabeth. Mit ihren geschickten Fingern machte sie sich sofort an die Arbeit und schabte die Flechte von der Rinde.
»Die sitzt unglaublich fest«, murmelte sie.
»Soll ich es versuchen?«, fragte ich und streckte die Hand nach der Pinzette aus.
»Nein!«, sagte sie wild entschlossen.
Weitere Blitze, jetzt näher, erhellten den Himmel. Der Regen war stärker geworden und Windstöße rüttelten an den Baumwipfeln. Wir klammerten die Beine um den Stamm und hielten uns so fest.
Ein erneutes Kreischen zog meinen Blick nach unten. Jetzt ragte nicht nur ein Kopf aus dem Nest, es waren zwei. Und dann – zu meinem Entsetzen – drei.
»Elizabeth«, sagte ich so ruhig wie möglich, obwohl ich fürchtete, meine Stimme würde sich gleich überschlagen.
»Ja?«
»Hast du schon genug?«
»Noch nicht.«
»Bitte mach schnell. Jetzt sind es drei.«
Sie schaute nach unten, sog
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