Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)
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Elizabeth schrie auf und ich fuhr herum. Der andere Geier war nun direkt über ihr und versuchte, mit seinen Klauen ihre ausgestreckte Hand zu durchbohren. Seine Augen blitzten und er riss den Schnabel auf. Verblüfft sah ich, wie Elizabeth den Vogel mit ihrer freien Hand packte und vom Ast zerrte.
Der Geier war so überrascht, dass er keine Zeit hatte, seine Schwingen zu entfalten, ehe Elizabeth ihre Zähne in seinem Hals versenkte. Ich wusste nicht, wer mehr erschrocken war, der Vogel oder ich. Er gab ein grässliches Geräusch von sich und kämpfte sich, wild mit den Flügeln schlagend, frei. Als er dann zu einem höheren Ast flatterte, traf er mich mit seinem Flügel, und mein Fuß rutschte ab.
Ich fiel, griff nach irgendetwas – und das einzig Greifbare in der Nähe war der Flügel des Geiers auf meiner anderen Seite. Seine Krallen bohrten sich tief in die Rinde und so bewahrte er mich unabsichtlich vor dem tödlichen Sturz.
»Victor! Elizabeth!«, brüllte Henry wieder. »Es kommt! Passt auf!«
Eine geschmeidige, katzenähnliche Gestalt raste durch die Äste auf mich zu. Ich sah ein Maul voller spitzer Zähne und riss den Arm hoch, um mich zu schützen. Doch die tödlichen Zähne waren nicht für mich bestimmt. Das fremdartige Tier fuhr wie ein Blitz vorbei und versenkte seine Reißzähne in der Kehle des Geiers, drückte ihn auf den Ast und hielt fest, bis der große Vogel sich nicht mehr bewegte.
Schließlich löste die gefleckte Katze ihren Griff. Der schlaffe Körper des Geiers glitt vom Ast und polterte über die Äste hinunter zur Erde. Dann drehte sich die Katze mit blutverschmiertem Maul um, und ich sah, dass es Krake war.
Einen Augenblick lang konnte ich in seine grünen Augen sehen, in denen so viel Mordlust lag, dass ich dachte, er würde im nächsten Moment mich angreifen. Doch das tat er nicht, sondern blickte hinauf zu dem zweiten Geier, der immer noch unsicher abwartete. Dann gab Krake ein so bösartiges Zischen von sich, dass der Vogel sich augenblicklich verzog, zurück in sein Nest zu seiner Gefährtin.
Krake streckte sich sofort auf dem Ast aus und fing an, sich sauber zu lecken.
»Krake!« Elizabeth schnappte nach Luft. »Gutes Kätzchen!«
»Victor! Elizabeth!«, brüllte Henry. »Ist alles in Ordnung? Sagt mir doch, was los ist. Ich fühle mich hier unten so nutzlos!«
Elizabeth und ich, vom Regen bis auf die Haut durchnässt, fingen an zu lachen.
»Uns geht es gut, Henry!«, rief sie. »Krake ist gekommen und hat uns geholfen!«
Verwundert blickte ich Elizabeth an. »Du hast den Geier gebissen! In die Kehle !«
Einen Moment lang wirkte sie verwirrt, dann nickte sie langsam und lachte noch heftiger. »Es war … das Einzige, was ich tun konnte.«
Der wilde Ausdruck in ihrem Gesicht war immer noch da. Eigentlich sollte er mich abstoßen, doch stattdessen zog er mich noch mehr an. Ich empfand den mächtigen Drang, sie an mich zu drücken und ihre Hitze und ihren Duft einzusaugen, der mich schon den ganzen Abend lang erregt hatte. Meine Augen suchten ihren Mund. Doch dann schüttelte ich den Kopf, um diesen Gedanken zu vertreiben.
»Wie hat es geschmeckt?«, fragte ich.
»Keine Ahnung«, sagte sie. Dann rümpfte sie die Nase, wischte sich den Mund ab und spuckte aus. »Hab ich ihn wirklich gebissen?«
Ich nickte. »Schauen wir zu, dass wir vom Baum runterkommen.«
Vorsichtig, denn der Baum war heimtückisch glitschig geworden und wir hatte müde Arme und Beine, stiegen wir durch die Äste hinunter zum Seil. Elizabeth ging voran und nach ihr ließ ich mich, am ganzen Körper zitternd, hinab. Henry war sofort zur Stelle, als meine Füße den Boden berührten, und wickelte meinen Umhang um mich. Ich sank neben Elizabeth auf die Erde und rang nach Atem.
Henry schien von uns am meisten mitgenommen zu sein. Mit rotem Gesicht tigerte er im Schein der Laternen auf und ab und bombardierte uns mit Fragen.
»Funken sind von oben auf mich herabgeregnet, und ich hatte Angst, der ganze Wald würde in Flammen aufgehen!«, rief er. »Und dann ist eine Wildkatze auf mich zu und den Baum hinaufgesprungen! Ich hatte keine Ahnung, was ich davon halten sollte! Mal im Ernst, Polidori hätte uns sagen sollen, dass er Krake hinter uns herschickt!«
Der Luchs landete neben uns auf dem Boden. Ich streckte die Hand aus und streichelte sein Fell zwischen den Ohren. Er schnurrte laut. Ich überlegte, ob es wohl Krake war, den ich gesehen hatte, wie er im Wald mit uns Schritt hielt. Seine
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