Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)

Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)

Titel: Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
Vom Netzwerk:
unwillkürlich von der einen zur anderen Seite wandte, die Luft prüfte und zwischen die Bäume spähte. Mein Gefühl von vorhin, dass uns etwas folgte, war stärker geworden und …
    Da! Weiter vorne ein Augenpaar. Unsere Blicke trafen sich, als wir stetig durch den Sturmwald bergauf gingen.
    Vielleicht war es ein Wolf. Ich hatte keine Angst. Irgendwie empfand ich, dass wir im Augenblick verwandt waren, wie wir beide in der Nacht herumstrichen.
    Elizabeth fand den Baum, an dessen gewaltigem Stamm das X als Markierung gerade noch sichtbar war. Ich schaute nach oben. Die ersten Äste waren sehr hoch, vielleicht mehr als zehn Meter über uns. Am Fuß des Baums setzten wir unsere Ausrüstung ab. Ich nahm das leichte Seil, das ich am Ende mit einem Gewicht beschwert hatte, damit man es besser schleudern konnte.
    Ich trat etwas vom Stamm zurück und warf es hinauf in die Äste. Das Seil spulte sich auch bestens ab, doch dann fiel es zurück. Wieder schleuderte ich es mit aller Macht nach oben. Ich kniff die Augen zusammen, um seine Flugbahn zu verfolgen, doch nicht einmal meine Wolfsaugen konnten die Finsternis um den hohen Baum durchdringen.
    Mein Seil spulte sich noch immer ab.
    »Ich glaube, du hast es geschafft!«, sagte Elizabeth.
    »Hier kommt das schwere Ende!«, rief Henry.
    Genau, wie ich gehofft hatte, hatte es sich über einen Ast geschlungen und zog das Seil an einer Seite in dem Maß hoch, wie es auf der anderen zu Boden fiel. Zu unseren Füßen schlug es auf.
    Wir banden das leichte Seil an ein festeres Kletterseil, zogen es hoch und über den Ast wieder zu uns herunter.
    »Das sind gut fünfzehn Meter«, sagte Henry, als wir das Seilende fest um den Baumstamm verknoteten. Ich zog kräftig daran, sprang hoch und hielt mich fest. Es gab nicht nach.
    »Henry«, fragte ich ihn, »willst du hochklettern?«
    »Normalerweise schon, ja, wenn ich nicht diese schreckliche Höhenangst hätte.«
    »Ich wusste gar nicht, dass du Höhenangst hast.«
    Mit schauderndem Blick schaute er in den Baum hinauf. »Oh ja.«
    »Das wird dich inspirieren. Denk an die Gedichte, die du schreiben wirst.«
    »Äh, dafür ist die Fantasie da«, antwortete er. »Dafür brauche ich keine unerfreulichen Erfahrungen.«
    Ich schaute Elizabeth an. Sie sah ziemlich selbstzufrieden aus.
    »Henry«, sagte ich, »ich bin enttäuscht.«
    »Victor, zwinge ihn nicht«, mahnte Elizabeth. »Es muss auch jemand hier unten bleiben, falls uns im Baum etwas passiert.«
    »Ich pass auf euch auf. Von hier aus«, versicherte Henry.
    »Ausgezeichnet«, sagte ich. »Es könnten ja Knochen zermalmende Raubtiere kommen, die abgewehrt werden müssen. Ich geh zuerst.«
    Ich zog meine Jacke aus. Selbst bei dem Wind war es mir zu warm, als wäre mein Körper mit einem Pelz überzogen. Dann kletterte ich los. Die Knoten im Seil gaben guten Halt für Hände und Füße. Ich verspürte eine ungewohnte Energie in Armen und Beinen, und bevor ich es gewahr wurde, hatte ich den Ast erreicht – er war richtig kräftig – und zog mich hinauf. Dann schob ich mich bis an den Stamm heran und wartete auf Elizabeth.
    Voller Bewunderung sah ich ihr beim Klettern zu. Sie zeigte kein Anzeichen von Zögern oder Furcht und war kaum außer Atem, als ich ihr auf den Ast half. Ich spürte mein Blut kräftig und wild in den Adern pochen und fragte mich, ob sie ebenfalls dieses starke, seltsame Gefühl empfand. Ich wollte sie an der Hand packen und im Wald verschwinden. Ich war ein Wolf und sie war meine Wölfin und die Nacht gehörte uns.
    Ich riss meinen Blick von ihr los und kletterte auf die Baumkrone zu. Zwischen den großen Ästen waren kleinere, die uns den Weg versperrten und mich zerkratzten. Bald waren meine Hände klebrig vom Harz des Baums und meine Haare voller Nadeln und Insekten.
    »Noch höher?«, fragte Elizabeth direkt unter mir.
    »Ich spür schon den Wind«, antwortete ich. »Wir müssen bald oben sein.«
    Dann erspähte ich nicht weit über meinem Kopf eine dicke Wand aus Ästen und trockenem Gras, die vom Stamm ausging. Ich machte Elizabeth darauf aufmerksam.
    »Ein Nest«, flüsterte sie.
    Es war ein technisches Wunderwerk. Ein gewaltiger Bau, etwa ein Meter tief und wenigstens zwei Meter im Durchmesser am oberen Rand. Ich hatte schon einmal ein prachtvolles Adlernest in einer nackten Felswand am Mont Salève gesehen. Doch dieses Nest hier war größer – und es versperrte unseren Weg zum Wipfel des Baums.
    »Vielleicht ist es ja verlassen«, sagte ich und dachte

Weitere Kostenlose Bücher