Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)
hast du das nicht wissen können«, sagte Elizabeth freundlich.
»Trotzdem«, warf mein Bruder ein. »Wenn du uns das mitgeteilt hättest, hätten wir uns vielleicht besser vorbereitet.«
Wir blickten uns einen Moment lang an, sagten aber kein Wort.
»Wir haben zwei Möglichkeiten«, sagte er dann. »Wir können zurückgehen und so eine Art Brücke besorgen – oder wir springen.«
Wir schwiegen alle drei. Ich wusste, dass niemandem die Vorstellung gefiel, jetzt umzukehren, besonders mir nicht. Wir hatten jetzt schon mindestens zwei Stunden unter der Erde verbracht, und wenn wir jetzt umkehrten, gab es keine Chance mehr, unsere Suche noch an diesem Tag fortzusetzen.
»Lasst uns springen!«, sagte Elizabeth.
Konrad sah sie überrascht an. »Bist du sicher?«
»Ich kann gut springen.«
Das stimmte. Sie war mit uns aufgewachsen und in endlosen Spielen hatten wir uns gegenseitig herumgejagt.
»Wenn sie einen Geier beißen kann, kann sie auch über einen Spalt springen«, sagte ich.
»Wir haben noch was von dem leichteren Seil«, schlug Konrad vor. »Wir hämmern einen Anker in den Stein und binden jeden an, der springt. Für alle Fälle.«
Wir trieben den Felsnagel tief in den Boden des Stollens und befestigten daran eine ordentliche Länge Seil. Das andere Ende knoteten wir zu einer Art Brustgurt, den jeder von uns bei seinem Sprung anlegen sollte.
Ich würde zuerst springen. Dazu setzte ich den Rucksack ab, legte den Brustgurt unter den Achselhöhlen an und trat zurück. Dann nahm ich Anlauf. Ich achtete darauf, nicht zu dicht an der Kante abzuspringen, und segelte über die Kluft, blinzelte in der Gischt des Wasserfalls, sah den Tunnelboden kommen und wusste, dass ich es geschafft hatte. Dann kam ich auf der anderen Seite leicht rutschend auf.
»Ausgezeichnet!«, rief Konrad.
»Ein ganzes Stück zu weit«, sagte ich, während ich den Brustgurt ablegte.
Ich wickelte das Seil auf und schleuderte es zurück. Konrad warf mir eine Laterne zu, die ich anzündete, damit der nächste Springer seine Landungsstelle besser einschätzen konnte.
Elizabeth war jetzt bereit. Sie nahm einen ordentlichen Anlauf. Als sie dann sprang, hielt ich den Atem an, denn ihr Sprungbogen erschien mir zu flach. Konrad, das sah ich aus dem Augenwinkel, beobachtete sie angespannt. Seine Hände hatte er locker um das Seil gelegt, bereit zuzupacken. Elizabeths Blick war mit grimmiger Konzentration auf mich gerichtet. Sie kam gerade noch auf der Kante auf.
»Ha! Geschafft!«, sagte sie zufrieden. Doch dann rutschten ihr auf dem schlüpfrigen Stein die Füße weg.
»Elizabeth!«, schrie Konrad auf.
Sie wankte nach hinten auf die Spalte zu. Blitzschnell packte ich sie mit beiden Händen am Unterarm und zog sie mit aller Kraft zu mir her. Dann krachten wir beide zu Boden. Einen Moment lang lag sie einfach nur keuchend auf mir und ich spürte ihren heißen Atem in meinem Ohr. Ich hielt sie noch fester, wollte sie nicht loslassen.
»Danke, Victor«, sagte sie, setzte sich auf und rieb sich die blutigen Knie. Sie klang eher ärgerlich als dankbar. »Du hast mir das Leben gerettet.«
»Vielleicht kannst du mir jetzt verzeihen?«, flüsterte ich.
»Alles in Ordnung?«, rief Konrad.
»Ja, aber es war knapp«, sagte Elizabeth.
Konrad warf den Rest unserer Ausrüstung herüber, bevor er selbst sprang und problemlos landete.
Erst als er seinen Brustgurt abgelegt hatte, brach Elizabeth in Tränen aus. Konrad schloss sie in seine Arme.
Über ihre Schulter blickte er mich an. »Wir hätten sie nicht mitnehmen sollen. Es ist zu viel für sie. Wir waren dumm und egoistisch.«
Elizabeth stieß ihn von sich und ihre nassen Augen funkelten.
»Ich hab einen großen Schreck bekommen und geweint – ja, vielleicht kommen Frauen eben schneller die Tränen als Männern –, aber nun bin ich fertig damit und bereit weiterzumachen.« Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. »Und wohin jetzt?«, fragte sie mit fester Stimme.
Und so setzten wir unseren Weg fort.
Wir gingen weiter, stetig tiefer. Auf meiner Uhr war es kurz vor Mittag.
Unser Tunnel wurde allmählich immer enger und wir mussten einer hinter dem anderen kriechen und unser Gepäck hinter uns herschleifen. Plötzlich konnte ich Henry verstehen. Bisher hatten mich enge Räume nie gestört, aber dieses verdammte Labyrinth drohte mir den Atem zu nehmen.
»Hat Temerlin das irgendwie erwähnt?«, fragte Konrad hinter mir.
»Nein. Vielleicht war er zu sehr damit beschäftigt, sich den
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