Düsteres Verlangen: Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein (German Edition)
ich an der Tür war, sagte sie etwas, das meinen Schritt stocken und mein Herz einen Schlag aussetzen ließ.
Schläfrig murmelte sie: »Gute Nacht, Victor.«
Beim Frühstück zeigte Elizabeth keinerlei Anzeichen dafür, dass sie sich an ihre nächtliche Wanderung erinnerte. Fröhlich sprach sie mit uns allen, und mit jeder Sekunde erschien es immer unwahrscheinlicher, dass sie in mein Bett gekommen war und mein Gesicht gestreichelt hatte.
Es hatte lange gedauert, bis ich wieder eingeschlafen war. Ich konnte keine bequeme Stellung finden. Als ich dann langsam wegdöste, spürte ich wieder ihr Gewicht und ihre Wärme, doch als ich mich begierig umdrehte, musste ich feststellen, dass es diesmal wirklich eine Illusion war.
Sie hatte meinen Namen genannt. Bedeutete das, dass sie wusste – oder dass ein Teil von ihr wusste –, wo sie war und was sie tat? Konnte das bedeuten, dass sie absichtlich in mein Zimmer gekommen war und nicht in Konrads?
Ich könnte sie fragen – aber wie? Es würde sie beschämen, schlimmstenfalls aber wütend auf mich machen, denn ganz sicher würde sie denken, ich hätte mir die ganze peinliche Geschichte nur ausgedacht.
Ich sah sie über den Esstisch hinweg an und sie lächelte mir zu – ein freundliches, schwesterliches Lächeln ohne auch nur einen Schimmer von Erinnerung. Sie strahlte so und war so schön, dass ich kaum mein Frühstück hinunterbrachte.
Nach dem Abendessen ging ich auf den Balkon und fand sie an die Balustrade gelehnt, von wo sie den Sonnenuntergang in den Bergen betrachtete.
»Die letzte Nacht unserer Gefangenschaft«, sagte ich.
Sie blickte etwas überrascht zu mir herüber, denn zweifellos hatte sie Konrad erwartet. Den hatte ich auf dem Flur abgefangen und ihm gesagt, Vater wolle, dass er nach den Pferden sehe und sich beim Stallmeister nach der trächtigen Stute erkundige.
»Die zwei Wochen sind eigentlich schnell rumgegangen«, meinte sie und schaute wieder zu den Bergen.
Für Salongespräche war ich nicht so begabt, doch ich hatte mir dank Henrys Dichtkunst ein paar Sätze zurechtgelegt – und ich hatte auch Mut gefasst, weil Elizabeth, ihr selbst nicht bewusst, letzte Nacht das Bett mit mir geteilt hatte.
»Selbst der Sonnenuntergang hält inne beim Anblick deiner Schönheit«, sagte ich, »so kann er dich ein Weilchen länger bestaunen.«
Mit großen Augen drehte sie sich zu mir um.
»Doch du bist die Strahlendere von euch beiden«, fuhr ich fort. »In deiner Nähe fühle ich mich wie eine Motte, und mir bleibt nichts anderes, als deine Flamme zu meiden.«
Sie lachte und hob die Hand vor den Mund.
»Hab ich etwas Komisches gesagt?«, fragte ich gereizt.
Elizabeth biss sich auf die Lippen und fasste sich wieder. »Nein, nein, das ist ganz süß, ich danke dir. Es ist nur, also, es ist einfach nicht die Sprache, die ich sonst von dir kenne, Victor.«
»Vielleich gibt es da bestimmte Begabungen, die ich bisher verborgen habe«, sagte ich und hob geheimnisvoll die Augenbrauen.
»Schwer zu glauben. Hast du gerade Gedichte gelesen?«
»Das sind meine eigenen Worte«, antwortete ich und das war nur halb gelogen. Diese verdammten poetischen Kritzeleien. Selbst wenn sie für mich entworfen wurden, konnte ich sie nicht richtig darbieten.
»Sie sind sehr schön, aber du hebst sie besser für eine andere auf.«
»Dann sind sie also verschwendet«, sagte ich. »Wie, wie …« Ich versuchte, mir etwas Bildhaftes einfallen zu lassen. »Wie Perlen nach Schweinen geschmissen.«
»Säue. Ich denke, das ist der Ausdruck, den du suchst. Perlen vor die Säue werfen.«
»Ach, zum Teufel mit diesen poetischen Worten, wenn du dich doch nur über mich lustig machen willst.«
»Nein, wirklich. ›Schwein‹ ist sehr ausdrucksstark«, meinte sie, »und eine ausgezeichnete Bezeichnung für einen Kerl, der mit der Geliebten seines Bruder flirtet.«
»Aha. Mir war nicht klar, dass du schon sein Eigentum bist.« Ich wusste, das würde sie wütend machen, denn meine Mutter hatte uns immer beigebracht, dass Frauen Männern gleichwertig sind und nicht als Besitz angesehen werden dürfen.
Ich bekam genau die Reaktion, die ich gewollt hatte. Ihre Augen blitzten auf.
»Ich gehöre niemandem, Victor, außer mir. Na ja«, fügte sie ein bisschen zerknirscht hinzu, »ich gehöre Gott, wie alle seine Geschöpfe. Aber kein Mensch wird mich jemals besitzen.«
»Oh, ich weiß, ich weiß«, sagte ich so abschätzig wie möglich. »Du hast schon immer deine eigene Wahl getroffen.
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