Düstermühle: Ein Münsterland-Krimi (German Edition)
sterben, ohne seine eigentliche Herkunft zu kennen.
»Vermutlich weiß diese Frau gar nicht, wo sie eigentlich herkommt«, sagte Keller. »Und wer weiß, was die beiden Frauen der Pflegefamilie überhaupt erzählt haben.«
»Vielleicht lebt die Frau ja auch gar nicht mehr.«
Hambrock betrachtete den verblassten Fleck auf seinem Hemd und drehte den Wasserhahn zu. Keller drückte seine Zigarette in einen überquellenden Aschenbecher.
»Ich hab gehört, deine Schwester liegt im Krankenhaus. Davon hast du ja gar nichts erzählt.«
Hambrock zuckte mit den Schultern. »Ist auch nichts Ernstes. Sie ist schon wieder auf dem Weg der Besserung.«
Zumindest der letzte Satz war keine Lüge. Birgit ging es wesentlich besser. Es würde noch lange dauern, bis sie sich erholt hätte, aber sie lebte, und das war das Wichtigste. Außerdem konnte sie schon wieder Scherze machen. Am Morgen hatte sie Hambrock mit den Worten begrüßt: »Ich habe gehört, du hast dich an meinem Sterbebett davongeschlichen? Das ist mal wieder typisch für dich. War dir wohl zu langweilig bei mir?« Doch dabei hatte sie ihm liebevoll zugelächelt. Sie hatte längst gehört, was geschehen war, und war wohl trotz allem ein wenig stolz auf ihn.
Keller ging zur Tür. »Na dann. Wir sehen uns morgen.«
»Ja, bis morgen.«
Sein Kollege verschwand auf dem Flur, und Hambrock warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel. Der Fleck war immer noch zu sehen, deshalb knöpfte er den Mantel zu. Es war kalt draußen, keiner würde Anstoß nehmen. Dann verließ er ebenfalls den Waschraum.
Unten auf dem Parkplatz erwartete ihn bereits der Gruppenwagen der Streifenpolizei. Uniformierte standen mit eingezogenen Schultern in der Kälte herum und unterhielten sich. Als sie Hambrock entdeckten, kam Bewegung in die Gruppe. Sie begrüßten ihn und stiegen in ihre Fahrzeuge.
Hambrock trat auf den Gruppenwagen zu. Ein Kollege zog die Rolltür zur Seite und gab den Blick frei auf den Gefangenen, den sie transportierten. Walther Vornholte hockte wie ein Häufchen Elend auf der Bank.
»Herr Vornholte? Sind Sie so weit? Dann kann es jetzt losgehen.«
»Oh, Herr Hambrock. Da sind Sie ja. Ich habe mich noch gar nicht bei Ihnen bedankt. Vielen Dank, dass Sie das möglich gemacht haben.«
»Das geht schon in Ordnung.«
»Nein, wirklich. Es bedeutet mir sehr viel.«
Hambrock lächelte. Vornholte wusste gar nicht, wie viele Hebel er tatsächlich in Bewegung hatte setzen müssen, um diesen Ausflug hier möglich zu machen. Es hatte ihn eine Menge Überzeugungsarbeit gekostet.
»Also gut, dann wollen wir mal.«
Er gab einem Uniformierten ein Zeichen, die Tür rollte zurück ins Schloss, und es ging los. Hambrock nahm seinen Privatwagen, um der Karawane hinterherzufahren. Es ging nach Düstermühle, zum Friedhof am Ortsrand. Der Himmel hatte sich wieder einmal verdunkelt, doch es war kein Niederschlag vorhergesagt. Hambrock wollte hoffen, dass es dabei bleiben würde.
Am Friedhofstor erwartete sie ein bulliger Mann mit einer Narbe im Gesicht. Jens Vogelsang. Er trug eine große silberne Dose unterm Arm. Sein Gesicht war leichenblass und seine Trauer deutlich spürbar. Es war ein besonderer Moment, der ihnen bevorstand. Selbst die Uniformierten schienen das zu bemerken. Schweigen legte sich über die Gruppe.
Walther Vornholte wurde zum Friedhofstor geführt. Dort umarmte er seinen Neffen lange und wechselte ein paar leise Worte mit ihm. Schließlich setzten sich alle in Bewegung, und es ging zum Grab von Hanne Vornholte.
Hambrock gab den Uniformierten ein Zeichen. Sie sollten Abstand halten. Onkel und Neffe sollten jetzt ungestört sein. Die beiden gingen auf das Grab zu. Jens Vogelsang öffnete die silberne Dose, die er bei sich trug. Er hatte Erde vom Grab seines Vaters mitgebracht. Da Hanne und Peter im Leben nicht mehr zueinandergefunden hatten, sollten sie im Tod wiedervereint werden.
Jens Vogelsang kniete nieder und gab die Erde aus der Dose vorsichtig auf Hannes Grab, wo er sie sorgfältig verteilte. Die Gefühle überwältigten ihn. Er begann hemmungslos zu weinen. Walther Vornholte hockte sich neben ihn und hielt ihn fest.
»Er sieht es«, hörte Hambrock ihn sagen. »Dort, wo dein Vater jetzt ist, sieht er, dass du ihn zu seiner Schwester geführt hast.«
Als Walther Vornholte wieder im Polizeiwagen saß, der ihn zurück nach Münster in den Gewahrsam bringen sollte, machte Hambrock sich auf den Weg nach Vennhues zu seinen Eltern. Seine Mutter hatte ein
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