Düstermühle: Ein Münsterland-Krimi (German Edition)
verlassen, natürlich nicht. Sein ganzes Leben war er dort unten gewesen. Er hatte die ganze Zeit über dort gehockt und ängstlich auf den Tod gewartet. Auf Erlösung. Und jetzt, endlich, war es so weit.
Er durfte sterben.
Am Rande der Wiese stand die rauchende Ruine. Das Feuer war gelöscht, doch viel war nicht übrig geblieben von dem kleinen Wirtschaftsgebäude. Der Notarztwagen versperrte den Weg. Auch die Spurensicherung war schon eingetroffen.
Bernhard Hambrock parkte seinen Dienstwagen unter den hohen Tannen am Wegesrand. Er sah zum Haupthaus hinüber. Ein prächtiger Barockbau, der über zwei Etagen reichte und aus roten Ziegeln und Sandstein erbaut war. Tiefgrüne Blendläden, uralte Sprossenfenster und eine herrschaftliche Freitreppe. Es war das Wohnhaus der Familie Schulte-Stein. Nichts bewegte sich dort. Die Fenster waren wie blinde Spiegel, die Türen allesamt verschlossen. Ein Glockenschlag ertönte. Die Turmuhr über der alten Scheune schlug zur Viertelstunde.
Hambrock öffnete die Tür und verließ den Wagen. Feuchte, diesige Luft schlug ihm entgegen. Am Morgen hatte er noch staunend am Fenster gestanden – der Raureif hatte alles weiß gefärbt und eine wunderschöne Winterlandschaft herbeigezaubert. Doch inzwischen waren die Temperaturen gestiegen, und es lag wieder Feuchtigkeit in der Luft. Der Himmel war wie eine milchige Wand.
Er beobachtete die Feuerwehrleute, die rund um den Löschzug mit Aufräumarbeiten begannen. Es herrschte Betriebsamkeit. Dann entdeckte er Henrik Keller, den Neuzugang im Präsidium, der seit ein paar Tagen in seiner Gruppe arbeitete. Er war an die Stelle von Heike Holthausen gerückt, die jetzt in Elternzeit war und anschließend in eine andere Abteilung wechseln würde. Hambrock hatte sich noch nicht näher mit Keller befasst, was wahrscheinlich unhöflich war, aber Heikes Abgang drückte schwer auf sein Gemüt, und deshalb interessierte ihn der Neue nicht sonderlich.
Keller war um die fünfzig. Sein genaues Alter hatte natürlich in den Unterlagen gestanden, aber Hambrock hatte es wieder vergessen. Er trug eine abgenutzte Jeansjacke, was ihm zusammen mit den gegelten Haaren, dem Goldkettchen und dem ungepflegten Dreitagebart das Aussehen eines drittklassigen Zuhälters verlieh. Zumindest im Kampf gegen die Pfunde war er wesentlich erfolgreicher als Hambrock.
Keller rauchte Kette, Marlboro. Als wolle er sich durch die Wahl der Marke jeden Tag selbst vor Augen führen, wie blödsinnig es ist, dieser Sucht nachzugehen. Jedenfalls lagen jetzt überall im Büro leere Marlboroschachteln herum, mit großen Warnhinweisen zur Gesundheitsgefährdung. Im Präsidium herrschte natürlich striktes Rauchverbot. Aber als Hambrock gestern den Waschraum betreten hatte, hätte er schwören können, dass Zigarettenqualm in der Luft lag.
Keller stand bei einem Kollegen der Spurensicherung und redete gut gelaunt auf ihn ein. Dabei hielt er mit der Linken die obligatorische brennende Zigarette, während er mit der Rechten seine Marlboroschachtel knetete. Hambrock sehnte sich Heike zurück.
In dem Moment entdeckte Keller ihn, schlug dem Spurentechniker freundschaftlich auf die Schulter und näherte sich mit großen Schritten.
»Bernhard!«, rief er. »Da bist du ja!«
»Nur meine Frau nennt mich so.«
Im Präsidium sprachen ihn alle mit Nachnamen an, egal, ob sie ihn duzten oder nicht.
»Ach, wirklich?«
Keller grinste breit. Das schien ihm zu gefallen.
»Vergiss es, Henrik. Das habe ich nicht gemeint, als ich dir das Du angeboten habe.«
»Ist ja gut. Schon kapiert.«
Hambrock blickte sich um. »Was gibt es?«
»Zwei Tote.«
»Zwei?«
Bislang war nur von einem Toten die Rede gewesen. Ein kleines Wirtschaftsgebäude war in Brand gesteckt worden, und den mutmaßlichen Brandstifter hatte man vor dem Gebäude tot aufgefunden.
»Einer war noch im Innern. Wie’s aussieht, der Hofbesitzer. Alfons Schulte-Stein. Er wird jedenfalls vermisst. Das Häuschen hier war seine Korbwerkstatt, und er hat immer sehr früh morgens mit der Arbeit angefangen.«
Keller nahm einen letzten Zug von der niedergebrannten Zigarette. Der Filter begann zu qualmen, und giftiger Rauch stieg auf. Er blickte sich um und ließ die Kippe einfach zu Boden fallen, wo sie keine Spuren hinterlassen würde. Dort trat er sie aus.
Hambrock blickte zum Herrenhaus hinüber. Hinter den Fenstern war nichts zu erkennen. Trotzdem hatte er den Eindruck, als würde das Haus sie beobachten.
Keller folgte seinem
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