Düstermühle: Ein Münsterland-Krimi (German Edition)
mehr daran, dass sie heute noch einen Tatverdächtigen festnehmen und er morgen mit seinem Sohn ins Stadion fahren konnte.
Er stand auf, zog seine Zigarettenschachtel hervor und zündete sich eine an. Im Büro herrschte natürlich Rauchverbot, aber heute war eine Ausnahme. Der größte Teil des Präsidiums war verwaist, kaum einer arbeitete am Samstag. Er beobachtete, wie sich der Rauch im Raum ausbreitete. Widerwillig stellte er ein Fenster auf Kipp, um wenigstens den Schein zu wahren. Gratczek würde gleich zurückkommen. Er war zum Bäcker gegangen, um sich schnell ein belegtes Brötchen zu besorgen, bevor alles zumachte.
Keller ließ sich in den Besucherstuhl sinken, legte die Beine auf den Tisch und zog genüsslich an der Zigarette. Er hätte jetzt problemlos Feierabend machen können.
Das Telefon klingelte. Er schielte zum Schreibtisch hinüber. Es war sein Apparat, aber das musste nichts zu bedeuten haben, denn Gratczek hatte eine Rufumleitung eingerichtet, bevor er verschwunden war. Das Klingeln hörte nicht auf. Bestimmt war das einer, der zu Gratczek wollte. Hundert Prozent. Sollte Keller dafür etwa aufstehen? Das schrille Geräusch begann zu nerven. Mit einem schweren Seufzer gab er sich geschlagen. Doch gerade, als er die Beine vom Tisch hievte, machte es Klick, und der Anrufbeantworter sprang an.
Na also. Keller konnte sitzen bleiben. Er dachte wieder an das Fußballspiel morgen. Er konnte es doch nicht absagen. Das konnte er dem Jungen nicht antun. Nur wie es aussah, blieb ihm keine andere Wahl.
Gratczek kehrte zurück. Natürlich zog er sofort eine Grimasse, als er Keller rauchen sah, aber er sagte nichts.
»Da hat ja einer angerufen«, meinte er und deutete auf den blinkenden Anrufbeantworter.
»Ach so, ja. Ich war nicht schnell genug am Apparat.«
Gratczek legte die Brötchentüte auf den Schreibtisch, zog seinen Mantel aus und hörte die Nachricht ab.
»Ja, hallo«, kam es aus der Maschine. »Ich habe eine Nachricht für Henrik Keller.«
Keller erkannte die Stimme sofort. Es war eine der Töchter von Fritz Schulte-Stein aus Köln. Er sprang auf, um besser verstehen zu können, was sie sagte.
»Wahrscheinlich ist am Wochenende bei Ihnen gar keiner zu erreichen. Aber vielleicht könnten Sie mich am Montag zurückrufen? Uns ist noch etwas eingefallen, keine Ahnung, ob das wichtig ist. Aber … na ja, wenn Sie Lust haben, rufen Sie einfach zurück.«
Dann knackte es in der Leitung, und das Gespräch war zu Ende.
»War das eine von den Kölner Schulte-Stein-Schwestern?«, fragte Gratczek.
Keller nickte, nahm den Hörer und drückte die Rückruftaste. Er stellte auf laut, damit sein Kollege das Gespräch mithören konnte. Eine Stimme meldete sich.
»Hallo, Herr Keller. Das ging ja schnell. Dann sind Sie also doch im Büro?«
»Ja, wir stecken eben mitten in einer Ermittlung. Sie sagten, Ihnen ist noch etwas eingefallen?«
»Na ja, vielleicht. Wir haben nach Ihrem Besuch noch lange über unseren Vater geredet, und dabei ist uns etwas eingefallen. Keine Ahnung, ob Sie etwas damit anfangen können, aber Vater hat im Krankenhaus seltsamen Besuch bekommen. Kurz bevor er starb. Da war plötzlich so ein Typ, den wir noch nie zuvor gesehen haben …« Im Hintergrund hörte Keller eine weitere Stimme, die etwas dazwischenflüsterte. Die Schwester. »Das wollte ich doch gerade sagen«, zischelte die erste zurück. Dann wandte sie sich wieder an Keller. »Das war so ein stämmiger Mann, wir sind ihm auf dem Flur vorm Krankenzimmer begegnet. Meine Schwester hat unseren Vater gefragt, wer das gewesen sei, doch er hat geschwiegen. Ganz seltsam hat er plötzlich gewirkt. Irgendwie so nachdenklich. Meine Schwester hat ihm keine Ruhe damit gelassen, und schließlich meinte er: ›Der Mann hat was mit dem Hof in Düstermühle zu tun‹. Er war wegen einer Sache von früher da, aber er wolle nicht darüber reden, und sie solle das respektieren. So war er eben. Er wollte ja nie über ›früher‹ reden.«
Keller und Gratczek wechselten einen Blick.
»Können Sie den Mann beschreiben?«, fragte Keller.
»Ich weiß nicht. Ich …« Wieder flüsterte die Schwester etwas im Hintergrund. »Meine Schwester sagt, sie kann sich an ihn erinnern. Er war etwa … was? … Also, er war fünfundvierzig bis fünfzig Jahre alt, sehr muskulös und trug ein Goldkettchen. Im Gesicht hatte er eine Narbe, quer über die Wange.«
»Wie oft haben Sie ihn im Krankenhaus gesehen?«
»Zweimal. Aber wie gesagt, Vater
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