Düstermühle: Ein Münsterland-Krimi (German Edition)
vorbeiziehende Stadtlandschaft. Leicht konnte man sich dem Irrglauben hingeben, dies wäre einfach ein Ausflug. Ein Spaziergang im Rheinpark, danach ein Kölsch in der Altstadt, und zum Schluss könnte man vielleicht zu den Kranhäusern gehen und spekulieren, wo genau die Wohnung von Lukas Podolski wäre. Aber ein Blick auf den Beifahrersitz machte diese Illusion zunichte.
Die beiden Töchter von Fritz Schulte-Stein warteten bereits auf sie. In der sonnendurchfluteten Küche hatten sie ein zweites Frühstück vorbereitet. Duftender Kaffee, frisch gepresster Orangensaft und ofenwarme Croissants. Keller betrachtete die beiden schönen Frauen und den liebevoll gedeckten Tisch. Vielleicht war das ja doch besser als ein Ausflug in der Stadt.
Eine Weile plauderten sie einfach nur, doch Keller störte das nicht. Sie hatten es nicht eilig, schon gar nicht nach der langen Fahrt. Gratczek schien es zum Glück nicht anders zu gehen. Sie genossen es, einfach in der Sonne zu sitzen und Belanglosigkeiten auszutauschen. Dinge, die nichts mit irgendwelchen Mordfällen zu tun hatten.
Doch schließlich kamen sie auf die Geschehnisse im Krankenhaus zu sprechen. Keller spielte auffällig mit seiner Zigarettenschachtel herum, bis eine der Schwestern ihm anbot, in der Küche zu rauchen. Die Frauen wiederholten, was sie am Telefon gesagt hatten.
»Bei dem Gespräch mit diesem komischen Mann im Krankenhaus ging es um ›früher‹, wie unser Vater es immer nannte. Damit meinte er seine Kindheit im Krieg. Der Besuch hatte ihn ziemlich mitgenommen, das merkte man ihm an. Er hörte uns gar nicht mehr richtig zu, außerdem wirkte er sehr traurig. Aber er wollte nicht darüber reden. Keine Chance.«
»Ich wünschte, er hätte damals gewusst, dass seine leibliche Tante den Krieg überlebt hat. Vielleicht hätte ihn das mit ›früher‹ ein bisschen versöhnt. Vielleicht hätte er uns dann erzählt, was damals alles passiert ist. Aber so …«
»Gut, wir kennen die groben Daten. Wie er seine Eltern verloren hat, dann die Zeit im Kinderheim, das Spielen in den Ruinen, der Hunger und schließlich der Hof von Schulte-Stein. Aber wenn er davon erzählt hat, hörte sich das immer an, als ginge es um ein ganz anderes Kind und nicht um ihn. Und jedes Mal kam der Satz: Anderen ging es viel schlechter.«
Die andere verdrehte die Augen. »Genau. Anderen ging es schlechter. Das war wie ein Mantra. Bestimmt ging es anderen Kindern tatsächlich schlechter, viele sind ja auch gestorben. Aber deshalb ist das eigene Leid doch nicht gleichgültig, verstehen Sie?«
»Natürlich«, sagte Keller und bemühte sich, den Rauch über ihren Kopf hinwegzupusten.
»Aber so war er nun mal. Und deswegen wollte er auch nicht erzählen, was dieser Mann wollte und worum es in ihrem Gespräch ging.«
»Könnten Sie diesen Mann noch mal beschreiben?«, fragte Gratczek.
»Ich schätze ihn auf Ende vierzig, oder was meinst du?«
Die Schwester nickte. »Ende vierzig, ja. Er sah nicht gerade freundlich aus. So ein bulliger Typ eben, mit Goldkettchen und Schlägergesicht.«
»Und dann die Narbe im Gesicht, die war echt gruselig.«
»Stimmt, die ging einmal quer über die linke Wange. Aber sonst?«
»Nein. Sonst weiß ich auch nichts.«
»In welchem Krankenhaus war Ihr Vater untergebracht?«
»Im Evangelischen Krankenhaus am Gürtel. In seinem letzten Jahr war er immer wieder für mehrere Wochen dort. Bis er schließlich starb.«
Gratczek erkundigte sich noch mal, wann genau der Fremde im Krankenhaus aufgetaucht war, doch die Frauen konnten nur vage Zeiträume nennen. Schließlich bedankten sich Gratczek und Keller und versprachen, sie in jedem Fall auf dem Laufenden zu halten, ganz egal, wie sich die Ermittlung entwickelte. Dann ging es für die Kommissare zurück in die Kälte.
Draußen beschlossen sie, zu dem Krankenhaus zu fahren, in dem Fritz gelegen hatte. Das Ganze war zwar schon eine Weile her, aber vielleicht erinnerte sich dort trotzdem einer an diesen Mann. Große Chancen rechneten sie sich natürlich nicht aus, aber ein Versuch wäre es wert.
Zwanzig Minuten später erreichten sie den Parkplatz des Evangelischen Krankenhauses. Die Sonne spiegelte sich in den Fenstern des großen Gebäudekomplexes, die gelben Backsteine leuchteten hell vor dem kalten Winterhimmel. Gratczek kurvte ein bisschen auf dem Parkplatz herum, doch alles war besetzt. Früher Sonntagnachmittag war offenbar die Hauptbesuchszeit. Schließlich entdeckte er eine freie Haltebucht auf
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