Düstermühle: Ein Münsterland-Krimi (German Edition)
danach alles erzählt wurde.«
»Tun Sie das. Wir sprechen später miteinander.«
»Genau, ich melde mich wieder.«
»Vielen Dank, Herr Beeke. Sie sind uns eine große Hilfe.«
Nach dem Telefonat saß Hambrock noch eine Weile da und dachte nach. Marodierende Zwangsarbeiter. Kriegsgefangene, die nicht zurück nach Russland durften. Was sollte er mit diesen Informationen anfangen? Er hatte das Gefühl, die Sache wurde immer undurchsichtiger.
Vor ihm lag der Zettel mit den Notizen, die er sich während des Telefonats gemacht hatte. Schon bald verschwammen die Buchstaben vor seinen Augen, und seine Gedanken wanderten zum Krankenhaus. Er sah auf die Uhr. Seine Eltern waren inzwischen bestimmt wieder dort. Er wollte sich bei ihnen nach Birgits Zustand erkundigen und sich anschließend auf den Weg in die Klinik machen.
Sein schlechtes Gewissen drückte ihn. Er hatte Carl Beeke versprochen, den Mörder von Rosa Deutschmann festzusetzen. Und jetzt würde er stattdessen wieder ins Krankenhaus fahren. Doch es ging nicht anders.
Carl betrachtete das Telefon in seiner Hand. Die Polizei interessierte sich also für das, was in den Vierzigern auf dem Hof der Schulte-Steins passiert war. Er hatte auch schon darüber nachgedacht. Ihm fehlte jedoch noch ein Teil im Puzzle, und wahrscheinlich würde es genau dort zu finden sein, wo es die Polizei vermutete. Bernhard Hambrock hatte bestimmt triftige Gründe, ihm diese Fragen zu stellen.
Was war damals auf dem Hof passiert?
Er erinnerte sich an die Karwoche fünfundvierzig, als die Alliierten ins Münsterland eingezogen waren. Carl war da bereits in den Osten verlegt worden. Es wurde längst nur noch auf deutschem Boden gekämpft, die Niederlage war nur noch eine Frage der Zeit, und trotzdem ging das Töten weiter. Tag für Tag.
Es wurden schwere Kämpfe bei Emsdetten gemeldet, das nur ein paar Kilometer von Düstermühle entfernt lag. Er hatte sich furchtbare Sorgen deswegen gemacht. Zur gleichen Zeit führte sie der Weg an Städten und Dörfern im Osten vorbei, und überall waren zerbombte Häuser gewesen. Übrig gebliebene Mauern, die sinnlos aus den Trümmern ragten, hier ein Stück Wand mit Badezimmerfliesen und dort eins mit Kindertapete und gemalten Teddybären. Immer wieder hatte er sich gefragt, ob es zu Hause genauso aussehen würde. Wie sehr der Krieg in Düstermühle gewütet hatte.
Am Ende hatte er dann nicht einmal mehr daran geglaubt, sein Dorf überhaupt je wiederzusehen. Um ihn herum nur noch besinnungsloses Töten. Wie sollte einer da lebend rauskommen? Eine plötzliche Truppenverschiebung ersparte ihm den Kessel von Halbe. Es ging gen Norden, nach Berlin. Dann trafen sie hinter den Linien auf einen Gespensterzug: KZ-Insassen, die ins Landesinnere gebracht wurden. Es waren keine Menschen, es waren wandelnde Tote, grau und ausgezehrt, wie aus einer anderen Welt. Da war es still geworden in ihrer Einheit, keiner hatte mehr etwas gesagt. Und am nächsten Tag kamen die Tiefflieger, die den Zug angriffen und schwere Verluste mit sich brachten. Eine neue Stadt, neue Ruinen. Und schließlich wieder die Front, wo der Russe stand. Man konnte nichts tun. Keiner konnte etwas tun. Man konnte nur weiterziehen und weiter töten. Was für eine gottverfluchte Zeit.
Carl schloss die Augen. Er wollte die Erinnerungen verscheuchen. Sie durften nicht zu viel Raum einnehmen. Es ging hier um die Schulte-Steins, nicht um seine eigenen Erlebnisse. Er betrachtete die Landschaft vor seinem Panoramafenster. Beim Anblick der ruhig fließenden Düster entspannte er sich.
Was war auf dem Anwesen von Schulte-Stein passiert? Was war es, das immer noch Schatten warf, nach siebzig Jahren?
Er würde die Antwort schon finden. Denk nach, denk gut nach. Dann wirst du den Teufel erkennen, der hinter allem steckt.
Antonius saß seit Ewigkeiten in der Küche über die Tageszeitung gebeugt, ohne eine einzige Zeile gelesen zu haben. Sein Kopf war voller Gedanken, daher konnte er sich nicht einmal auf die fett gedruckten Schlagzeilen konzentrieren. Helga war irgendwann mit dem Rollstuhl ins Wohnzimmer gefahren und hatte den Fernseher eingeschaltet. Seit sie von Rosas Tod erfahren hatte, war sie schweigsam geworden. Sie hatte Angst, und er konnte sie gut verstehen. Dabei war sie nicht in Gefahr, da war er ganz sicher. Aber wie sollte er ihr das verständlich machen?
Er schob die Zeitung beiseite und stand auf. Er musste wissen, was hier passierte. Wieso ihm alles aus den Händen glitt. Das konnte
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