Dune 01: Der Wüstenplanet
starrte Alia an. »Weswegen, glaubst du, nehme ich all ihre Beleidigungen hin? Weil ich weiß, daß dahinter keine Bösartigkeit steckt.«
Alia schaute zu ihrer Mutter auf.
»Ja, ich bin durchaus fähig, aus meinen Beobachtungen die richtigen Schlüsse zu ziehen, Ehrwürdige Mutter«, sagte Harah. »Aus mir hätte eine Sayyadina werden können. Für mich steht fest, daß ich das, was ich gesehen habe, gesehen habe.«
»Harah ...« Jessica hob die Schultern. »Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll.« Und sie stellte überrascht fest, daß das der Wahrheit entsprach. Es war überraschend.
Alia reckte sich, offensichtlich war das, worauf sie gewartet hatte, eingetreten.
»Wir haben einen Fehler gemacht«, sagte das Kind. »Wir brauchen Harah jetzt.«
»Es ist bei der Zeremonie geschehen«, sagte Harah, »während du das Wasser des Lebens verändertest, Ehrwürdige Mutter – und Alia noch nicht geboren war.«
Wir brauchen Harah? fragte sich Jessica.
»Wer sonst kann zu den Leuten reden und ihnen beibringen, mich zu verstehen?« fragte Alia.
»Was willst du, daß sie tut?« fragte Jessica zurück.
»Sie weiß bereits, was sie tun muß«, erwiderte Alia.
»Ich werde ihnen die Wahrheit sagen«, sagte Harah. Ihr Gesicht erschien plötzlich älter und trauriger als je zuvor. »Ich werde ihnen sagen, daß Alia nur vorgibt, ein kleines Mädchen zu sein, obwohl sie es in Wirklichkeit niemals gewesen ist.«
Alia senkte den Kopf. Tränen liefen über ihre Wangen, und Jessica fühlte eine Welle der Traurigkeit in ihrer Tochter.
»Ich weiß, daß ich eine Mißgeburt bin«, flüsterte das Kind. Die erwachsene Schlußfolgerung hörte sich aus ihrem Mund an wie eine bittere Bestätigung.
»Du bist keine Mißgeburt!« sagte Harah schroff. »Wer wagt es, so etwas zu behaupten?«
Erneut wunderte sich Jessica, wieso sich Harah derart beschützend vor ihre Tochter stellte. Und ihr wurde klar, daß Alia sie richtig beurteilt hatte. Sie brauchten Harah ebenso wie ihre Worte und Gefühle. Es war offensichtlich, daß sie Alia liebte, als sei sie ihr eigenes Kind.
»Wer sagt das?« wiederholte Harah.
»Niemand.«
Alia ergriff den Saum von Jessicas Aba, und sie wischte sich damit die Tränen aus dem Gesicht. Darauf glättete sie den Stoff wieder.
»Dann sage du es auch nicht«, befahl Harah.
»Ja, Harah.«
»Und jetzt«, fuhr Harah fort, »erzähle mir alles, damit ich weiß, wie ich bei den anderen vorzugehen habe. Erzähle mir, was mit dir geschehen ist.«
Alia schluckte und sah ihre Mutter an.
Jessica nickte zustimmend.
»Eines Tages wachte ich auf«, sagte Alia. »Es war, als erwachte ich von einem Schlaf, aber ich konnte mich nicht erinnern, schlafen gegangen zu sein. Ich befand mich an einem warmen, dunklen Platz. Und ich fürchtete mich.«
Während sie dem halb lispelnden Tonfall ihrer kleinen Tochter horchte, erinnerte sich Jessica an jenen Tag in der großen Höhle.
»Und als ich mich fürchtete«, berichtete Alia weiter, »versuchte ich irgendwohin zu entkommen. Aber es gab keinen Ausweg. Dann sah ich einen Funken ... das heißt, ich sah ihn nicht; es war eine andere Form des Sehens. Er war bei mir, und ich fühlte seine Emotionen ... er streichelte mich und sagte mir, daß alles in Ordnung gehen würde. Es war meine Mutter.«
Harah rieb sich die Augen und lächelte Alia zu, doch blieb ein Ausdruck in ihren Augen, der zeigte, daß die Fremen-Frau nicht nur mit ihren Ohren, sondern auch mit dem Blick die Worte des Mädchens zu verstehen suchte.
Und Jessica dachte: Was wissen wir wirklich darüber, wie solche Frauen denken? Nach allem, was sie uns voraushaben?
»Und kaum fühlte ich mich sicher und beschützt«, fuhr Alia fort, »stellte ich fest, daß sich bei uns ein dritter Funke befand ... und dann geschah alles auf einmal. Der andere Funke war die alte Ehrwürdige Mutter. Sie war dabei ... ihr Leben mit meiner Mutter zu teilen ... ihr alles zu geben. Und ich war dabei, mit ihnen zusammen, und sah und hörte alles. Und als es vorüber war, war ich sie. Und sie waren ich. Es hat lange gedauert, bis ich mich selbst wiederfand.«
»Es war eine schreckliche Erfahrung«, sagte Jessica. »Kein Wesen sollte auf diese Weise ein Bewußtsein erlangen. Es ist ein Wunder, daß du all dies aufnehmen konntest.«
»Ich konnte nichts dagegen tun!« sagte Alia heftig. »Ich wußte einfach nicht, wie ich mein Bewußtsein gegen die Informationsflut schützen oder abblocken konnte. Es passierte einfach ... es
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