Dune 03: Die Kinder des Wüstenplaneten
sein Vater tat. Muad'dibs Kirche sagt, er entschied sich aufgrund seiner eigenen Menschlichkeit zu einem Schritt, der vielleicht absurd und närrisch erscheinen mag, den die Geschichte jedoch erklären wird, die bereits jetzt eine Veränderung erfährt. Aber ich sage euch, daß aus diesen Leben und ihrem Ende eine andere Lehre zu ziehen ist.«
Alia, die jedes seiner Worte mit größter Konzentration analysierte, fragte sich, warum der Prediger vom Ende eines Lebens gesprochen hatte, anstatt vom Tod. Wollte er damit sagen, daß Leto oder Paul – oder möglicherweise alle beide – gar nicht tot waren? War das möglich? Aber eine Wahrsagerin hatte Ghanimas Geschichte bestätigt. Welche Ziele verfolgte dieser Prediger dann? Galt seine Feststellung einem Mythos oder der Wirklichkeit?
»Und merkt euch diese andere Lehre gut!« donnerte er und hob die Arme. »Wenn ihr euch in den Besitz eurer eigenen Menschlichkeit setzen wollt laßt das Universum fahren!«
Er ließ die Arme wieder sinken und richtete den Blick seiner leeren Augenhöhlen direkt auf Alia, als habe er sie persönlich gemeint. Der Eindruck war so offensichtlich, daß viele der Umstehenden fragend in ihre Richtung blickten. Unter der sich auf sie richtenden Kraft erzitterte sie. Es konnte Paul sein. Er konnte es sein!
»Aber ich stelle fest«, sagte der Prediger, »daß die Menschen nicht sehr viel Realität ertragen können. Die meisten Leben sind eine Flucht vor dem eigenen Ich. Man bevorzugt die Wahrheiten des Stalles, steckt die Köpfe durch die Gitterstäbe und schmatzt vor sich hin, bis man stirbt. Man wird von anderen ausgenutzt und hat keine Gelegenheit, den Stall zu verlassen, den Kopf zu heben und seine eigene Kreatur zu sein. Muad'dib kam, um euch dies zu sagen. Wenn man seine Botschaft nicht versteht, ist man auch nicht in der Lage, ihn zu ehren!«
Irgend jemand innerhalb der Menschenmenge – möglicherweise ein verkleideter Priester – konnte sich nicht mehr zurückhalten. Mit heiserer Stimme schrie er: »Du hast das Leben Muad'dibs nicht gelebt! Wie kannst du es wagen, anderen zu erzählen, auf welche Weise man ihn ehren soll?«
»Weil er tot ist!« donnerte der Prediger ihn an.
Alia wandte sich um, weil sie wissen wollte, wer den Prediger herausgefordert hatte. Der Mann blieb unsichtbar für sie, aber seine Stimme drang über die ihn verbergenden Köpfe mit einem weiteren Ausruf hinweg: »Wenn du glaubst, daß er wirklich tot ist, wirst du von nun an allein sein!«
Es handelte sich zweifellos um einen Priester, dachte Alia. Aber es gelang ihr nicht, ihn an der Stimme zu erkennen.
»Ich bin nur gekommen«, sagte der Prediger, »um eine einfache Frage zu stellen. Bedingt der Tod Muad'dibs den moralischen Selbstmord der gesamten Menschheit? Sind das die unvermeidlichen Folgen eines Messias?«
»Dann gibst du zu, daß er ein Messias war?« schrie die Stimme aus der Menge zurück.
»Warum nicht, wenn ich der Prophet seiner Zeiten bin?« gab der Prediger zur Antwort.
In seinem Tonfall lag soviel kühle Sicherheit, daß sogar sein Herausforderer in Schweigen verfiel. Die Menge antwortete ihm mit verstörtem Gemurmel.
»Ja«, wiederholte der Prediger. »Ich bin der Prophet dieser Zeit.«
Alia, die ihn keine Sekunde lang aus den Augen ließ, glaubte aus ihm die verdeckte Kraft der Stimme herauszuhören. Der Mann hatte die Menge sicher im Griff. Hatte er die Ausbildung der Bene Gesserit genossen? Stellte er lediglich einen anderen Strohmann der Missionaria Protectiva dar? War er gar nicht Paul, sondern lediglich ein neuer Trick in diesem endlosen Spiel um die Macht?
»Ich artikuliere die Mythen und den Traum!« rief der Prediger. »Ich bin der Arzt, der das Kind zur Welt bringt und bekanntgibt, daß es geboren ist. Und dennoch komme ich zu euch in einer Zeit des Todes. Macht euch das nicht nachdenklich? Es sollte eure Seelen wachrütteln!«
Obwohl seine Worte in ihr starken Ärger hervorriefen, verstand Alia, auf was er hinauswollte. Mit anderen, die sie mitzogen, fand sie sich plötzlich vor den Treppenstufen wieder. Der große Mann in der Wüstenkleidung wurde immer mehr umringt. Alia betrachtete seinen jungen Führer: Wie frech er wirkte, und wie seine Augen leuchteten! Würde Muad'dib sich mit einem solch zynisch wirkenden Jugendlichen umgeben?
»Es ist meine Absicht, euch aufzurütteln!« rief der Prediger jetzt. »Und genau das will ich tun! Ich bin gekommen, um den Schwindel und die Illusionen eurer konventionellen,
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