Dune 03: Die Kinder des Wüstenplaneten
Muad'dib es in seinen Visionen vermocht hatte, diese Gabe erforderte eine entgegengesetzte Kraft. Daraus erwuchsen neue Möglichkeiten der Entscheidung. Ungefesselt zu sein, konnte eine Laune Gottes bedeuten. Es war nur eine weitere Unfaßbarkeit jenseits menschlichen Vorstellungsvermögens.
Stilgar nahm die Hand vom Messergriff und stellte fest, daß seine Finger zitterten. Die Klinge, die einst im riesenhaften Maul eines Sandwurms als Zahn geleuchtet hatte, verblieb in ihrer Scheide. Stilgar wußte jetzt, daß er die Kinder nicht töten würde. Er war zu einer Entscheidung gelangt. Es war besser, sich an jene alte Tugend zu halten, der er sich sein ganzes Leben lang unterworfen hatte: der Loyalität. Es war besser, sich an jene Dinge zu halten, an die man glauben konnte, als an jene, die man verstehen mußte. Besser das Jetzt als einen ungewissen Zukunftstraum. Der bittere Geschmack, der sich plötzlich in seinem Mund breitmachte, sagte ihm, wie leer und wie aufrührerisch manche dieser Träume sein konnten. Nein, dachte er. Keine Träume mehr. Nie wieder!
2
FRAGE: »Hast du den Prediger gesehen?«
ANTWORT: »Ich sah einen Sandwurm.«
FRAGE: »Was ist mit diesem Sandwurm?«
ANTWORT: »Er gibt uns die Luft, die wir atmen.«
FRAGE: »Und warum zerstören wir dann sein Land?«
ANTWORT: »Weil Shai-Hulud (der göttliche Sandwurm) es uns befiehlt.«
›Das Rätsel von Arrakis‹,
von Harq al-Ada
Wie es bei den Fremen üblich war, erwachten die Zwillinge eine Stunde vor Sonnenaufgang. Sie gähnten und reckten sich wie in geheimer Übereinkunft in ihren angrenzenden Zimmern und fühlten die Aktivität der anderen Höhlenbewohner um sich. Sie hörten die Diener in den Vorräumen leise das Frühstück bereiten, ein einfaches Mahl aus Datteln und Nüssen, die mit einer Flüssigkeit getränkt waren, die hauptsächlich aus Gewürz bestand. Die Leuchtgloben warfen einen sanften, gelben Schein aus den Vorräumen in ihre Zimmer. Die Zwillinge kleideten sich rasch an. Jeder spürte die Nähe des anderen, ohne ihn zu sehen. Als hätten sie sich abgesprochen, schlüpften sie in ihre Destillanzüge, die sie vor dem scharfen Wüstenwind schützten.
Gleichzeitig erschienen sie in ihrem Frühstückszimmer. Die Bediensteten schwiegen wie auf Kommando. Leto trug über der grauen Glätte des Destillanzuges eine schwarze Kapuze, seine Schwester eine grüne. Die Verschlüsse zeigten das Wappen der Atreides' – einen goldenen Falken mit Augen aus roten Juwelen.
Als sie die Schmuckstücke sah, sagte Harah, eine von Stilgars Frauen: »Ich sehe, ihr habt euch zu Ehren der Ankunft eurer Großmutter heute besonders herausgeputzt.« Bevor Leto ihr antwortete, zog er seinen Teller zu sich heran. Er musterte Harahs dunkles, von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht und erwiderte schließlich kopfschüttelnd: »Woher willst du wissen, daß wir das für sie getan haben? Genausogut könnten wir uns doch auch selbst eine Ehre erweisen.«
Harah sah ihn an und entgegnete ohne mit einer Wimper zu zucken: »Meine Augen haben die gleiche Farbe wie deine.«
Ghanima lachte laut auf. Harah war gar nicht so leicht beizukommen, fand sie. In dem einen Satz hatte sie schlagfertig eine ganze Antwort untergebracht, die lautete: »Versuche nicht, mich auf den Arm zu nehmen, mein Junge. Du magst zwar von königlichem Geblüt sein, aber dennoch tragen wir beide das Zeichen der Melangeabhängigkeit. Unsere Augen sind blau und enthalten kein Weiß. Welcher Fremen benötigt mehr Ehre als diese?«
Leto lächelte und wiegte nachdenklich den Kopf. »Meine liebe Harah«, sagte er dann, »wenn du etwas jünger wärst und nicht bereits Stilgar gehörtest – ich würde sicherlich um dich werben.«
Harah nahm den kleinen Sieg mit einem gleichmütigen Lächeln hin. Dann gab sie den bereitstehenden Dienern das Zeichen, die Räumlichkeiten für die bevorstehenden Aktivitäten des heutigen Tages vorzubereiten. »Eßt euer Frühstück«, wies sie die Zwillinge an. »Ihr werdet heute eine Menge Kraft brauchen.«
»Dann bist du also damit einverstanden, daß wir nicht zu sehr herausgeputzt für unsere Großmutter sind?« fragte Ghanima mit vollem Mund.
»Du brauchst sie nicht zu fürchten, Ghani«, sagte Harah.
Leto schluckte einen Bissen hinunter und warf Harah einen prüfenden Blick zu. Die Frau machte auf ihn einen kindlich schlauen Eindruck. Daß sie ihr Spielchen so schnell durchschaut hatte, machte ihn nachdenklich. »Ob sie annimmt, daß wir sie fürchten?«
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