Dune 05: Die Ketzer des Wüstenplaneten
Odrade nahm es ihr nicht übel. Es war für ihr beiderseitiges Überleben notwendig gewesen. Die Probleme waren erst aus der Tatsache erwachsen, daß ihre Ziehmutter Odrade etwas gegeben hatte, das die meisten Mütter ihren Kindern geben – das, was der Schwesternschaft mißfiel: Liebe.
Als die Ehrwürdigen Mütter gekommen waren, hatte die Ziehmutter sich nicht gegen die Wegnahme ihres Kindes gewehrt. Es waren zwei Ehrwürdige Mütter gewesen – und mit ihnen war ein Kontingent männlicher und weiblicher Prokuratoren erschienen. Hinterher hatte es lange Zeit gedauert, bis Odrade die Bedeutung dieses beklemmenden Augenblicks verstand. Die Frau hatte in ihrem tiefsten Herzen stets gewußt, daß irgendwann der Tag des Abschieds kommen würde. Es war nur eine Frage der Zeit. Aber dennoch: als aus den Tagen Jahre geworden waren – beinahe sechs Standardjahre –, hatte die Frau zu hoffen gewagt.
Und dann waren die Ehrwürdigen Mütter mit ihren stämmigen Helfern erschienen. Sie hatten lediglich gewartet, bis alles sicher war, bis sie Gewißheit hatten, daß kein Jäger wußte, wer dieses Kind war: Ein von den Bene Gesserit geplanter Atreides-Sprößling. Odrade hatte gesehen, wie man ihrer Ziehmutter einen großen Geldbetrag übergab. Die Frau warf das Geld auf den Boden. Dennoch erhob sich keine Stimme, die Einhalt gebot. Die anwesenden Erwachsenen wußten, wer die Macht hatte.
Als Odrade diese komprimierten Gefühle in sich aufsteigen ließ, sah sie die Frau immer noch: Sie schleppte sich zu einem Lehnstuhl am Fenster zur Straße, kauerte sich zusammen und schaukelte vor und zurück, vor und zurück. Sie gab nicht einen Ton von sich.
Die Ehrwürdigen Mütter setzten die Kraft der Stimme, ihre beachtlichen Manipulationstalente, den Rauch betäubender Kräuter und ihre übermächtige Erscheinung ein, um Odrade in das wartende Bodenfahrzeug zu locken.
»Es ist ja nur für eine Weile. Deine richtige Mutter hat uns geschickt.«
Odrade durchschaute zwar ihre Lügen, aber schließlich siegte ihre Neugier. Meine richtige Mutter!
Ihr letzter Blick auf die Frau, die der einzige ihr bekannte weibliche Elternteil gewesen war, hatte eine Gestalt getroffen, die am Fenster gesessen hatte und vor- und zurückschaukelte. Ihr Gesicht hatte elend gewirkt, und sie hatte die Arme um die Schultern geschlungen.
Später, als Odrade davon gesprochen hatte, zu ihr zurückzukehren, gehörte diese Erinnerungsvision bereits zu einer Grundsatzlektion der Bene Gesserit.
»Liebe führt ins Elend. Liebe ist eine uralte Kraft, die zwar früher zweckdienlich war, heute jedoch für das Überleben der Spezies keine Bedeutung mehr hat. Erinnere dich an den Fehler dieser Frau, ihren Schmerz.«
Bis ins Alter einer Halbwüchsigen hinein bemühte Odrade sich, mit Tagträumen darüber hinwegzukommen. Sie würde wirklich zurückkehren, wenn sie erst einmal eine vollwertige Ehrwürdige Mutter war. Sie würde zurückkehren und diese liebenswerte Frau finden. Sie würde sie finden, obwohl sie außer ›Mama‹ und ›Sibia‹ keinen Namen hatte. Odrade erinnerte sich an das Lachen erwachsener Freunde, die die Frau ›Sibia‹ genannt hatten.
Mama Sibia.
Die Schwestern hatten jedoch von ihren Tagträumereien erfahren und nach deren Quellen gesucht. Auch dies hatte man in eine Lektion aufgenommen.
»Tagträumereien sind das erste Erwachen dessen, was wir ›Simulfluß‹ nennen. Es ist ein grundsätzliches Werkzeug rationalen Denkens. Damit kann man den Geist zum besseren Denken bewegen.«
Simulfluß.
Odrade konzentrierte sich auf Taraza, die hinter dem Tisch ihres Morgenraums saß. Kindheitstraumata mußten sorgfältig in eine rekonstruierte Erinnerung eingepflanzt werden. All dies hatte sich fern von hier abgespielt; auf Gammu, dem Planeten, den das Volk von Dan nach den Zeiten des Hungers und der Diaspora wieder aufgebaut hatte. Das Volk von Dan – Caladan hatte der Planet einst geheißen. Odrade konzentrierte sich auf die Vernunft und nahm die Pose der Weitergehenden Erinnerungen ein, die während der Gewürzagonie, als sie wirklich eine vollwertige Ehrwürdige Mutter geworden war, durch ihren Geist geflossen waren.
Simulfluß ... der Bewußtseinsfilter ... Weitergehende Erinnerungen.
Welch mächtige Werkzeuge die Schwesternschaft ihr gegeben hatte. Welch gefährliche Werkzeuge. Sämtliche anderen Existenzen befanden sich nur knapp hinter dem Vorhang der Wahrnehmung. Werkzeuge zum Überleben, nicht dafür, um beiläufige Neugier zu
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