Dune 06: Die Ordensburg des Wüstenplaneten
wir unser Dasein teilen, weil es keinen offenen Weg gibt. Die Geheimnisse, die wir nicht kennen dürfen, ehe die Zeit reif für sie ist. Lucilla war aus der Ferne darüber gestolpert: über rätselhafte Bemerkungen Odrades.
»Weißt du, was an Gammu so interessant ist? Mmmmm, es gibt dort eine Gemeinschaft, die sich auf der Grundlage zusammengetan hat, daß man ausnahmslos geweihte Nahrung zu sich nimmt. Ein Brauch, den Emigranten mitgebracht haben, die niemals assimiliert wurden. Sie bleiben untereinander, halten Ehen mit Andersgläubigen für ein Übel und dergleichen. Natürlich pflegen sie den üblichen mythischen Detritus: Getuschel, Gerüchte. Was dazu dient, sie nur noch weiter zu isolieren. Genau das, was sie wollen.«
Lucilla wußte von einer uralten Gemeinschaft, die ausgezeichnet zu dieser Beschreibung paßte. Sie war neugierig. Die Gemeinschaft, an die sie dachte, sollte jedoch angeblich kurz nach der Zweiten Auswanderungswelle ausgestorben sein. Eine gewissenhaft vorgenommene Archivuntersuchung hatte ihre Neugier jedoch nur noch mehr angestachelt. Daseinsformen, nebulöse, auf Gerüchten basierende Beschreibungen religiöser Riten – speziell die Kandelaber – und das Einhalten gewisser Feiertage mit einer Ächtung der Arbeit, die an ihnen wirksam wurde. Und sie lebten nicht nur auf Gammu!
Eines Morgens, den Vorteil einer seltenen Windstille ausnutzend, betrat Lucilla ihr Arbeitszimmer, um ihre ›vordringliche Vermutung‹ zu überprüfen, etwas, das zwar nicht so verläßlich war wie das Äquivalent eines Mentaten, aber mehr als graue Theorie.
»Ich nehme an, du hast eine neue Aufgabe für mich.«
»Ich stelle fest, daß du einige Zeit im Archiv verbracht hast.«
»Es schien mir eine gewinnbringende Sache zu sein, es jetzt zu tun.«
»Zusammenhänge herzustellen?«
»Eine Vermutung.« Diese geheime Gemeinschaft auf Gammu – sie besteht aus Juden, nicht wahr?
»Vielleicht bedarfst du besonderer Informationen über den Ort, an dem wir dich stationieren werden.« Wie extrem sachlich.
Lucilla ließ sich, ohne dazu aufgefordert worden zu sein, auf Bellondas Stuhlhund nieder.
Odrade nahm einen Schreiber, kritzelte etwas auf ein Zellstoffblatt und reichte es an Lucilla weiter – auf eine Weise, daß es den Kom-Augen verborgen blieb.
Lucilla erkannte den Wink. Sie beugte sich über die Botschaft und hielt sie so, daß ihr Kopf sie völlig abschirmte.
»Deine Vermutung ist korrekt. Bevor du sie enthüllst, mußt du sterben. Dies ist der Preis ihrer Kooperation, ein Zeichen großen Vertrauens.« Lucilla riß die Botschaft in Fetzen.
Odrade setzte Netzhaut- und Handflächenidentifikation ein, um auf der hinter ihr liegenden Wand ein Paneel zu entsiegeln. Sie nahm einen kleinen ridulianischen Kristall an sich und reichte ihn Lucilla. Obwohl es warm war, fröstelte sie. Was konnte dermaßen geheim sein? Odrade schwang die Sicherheitshaube unter ihrem Arbeitstisch hervor und brachte sie in Position.
Lucilla ließ den Kristall mit zitternder Hand wieder in seinen Behälter fallen und zog sich die Haube über den Kopf. Auf der Stelle formten sich in ihrem Geist Worte, die mündliche Vorstellung uralter Betonungen, die nach ihrer Erkenntnisfähigkeit griffen: »Das Volk, auf das deine Aufmerksamkeit gerichtet wurde, ist das der Juden. Sie haben vor Äonen eine defensive Entscheidung getroffen. Aufgrund ständig wiederkehrender Pogrome haben sie sich aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit zurückgezogen. Die Raumfahrt hat dies nicht nur möglich, sondern auch attraktiv gemacht. Sie haben sich auf zahllosen Planeten verborgen – in ihrer selbstgewählten Diaspora –, und es gibt möglicherweise Welten, auf denen sie ganz allein leben. Dies bedeutet nicht, daß sie den uralten Praktiken abgeschworen haben, die es ihnen ermöglichten, zu überleben. Es ist gewiß, daß die alte Religion weiterhin besteht, auch wenn sie sich etwas verändert hat. Möglicherweise würde sich ein Rabbi aus der fernen Vergangenheit etwas deplaziert hinter dem Sabbath-Menorah eines jüdischen Haushalts deiner Zeit fühlen. Aber sie leben so verborgen, daß man ein Leben lang neben einem Juden arbeiten könnte, ohne es zu bemerken. Sie bezeichnen dies als ›Totaltarnung‹, obwohl sie deren Gefahren kennen.«
Lucilla nahm es hin, ohne Fragen zu stellen. Was dermaßen geheim war, mußte jeder, der in dieser Hinsicht auch nur Vermutungen hegte, für gefährlich halten. »Warum halten sie es weiterhin geheim, he? Beantworte
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