Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel
der Mann die Wahrheit sagte oder nicht. Das gemauerte Gewölbe war sichtlich alt, aber es war unmöglich zu sagen, ob es nun fünfhundert, tausend oder zweitausend Jahre alt war. Er dachte an ein anderes, unendlich größeres Kellergewölbe, in dem er vor nicht allzu langer Zeit gewesen war, und starrte die geschlossene Toilettentür an.
»Das ist typisch.« Der Wirt deutete seinen Blick offensichtlich falsch und wies mit seinem Bierglas auf die Wand gegenüber. »Kaum einer hier weiß davon, aber gleich hinter dieser Wand beginnt ein Labyrinth, das bis heute noch nicht richtig erforscht ist. Es heißt, die ganze Innenstadt wäre untertunnelt. Vielleicht sogar noch viel mehr. Vor ein paar Jahren haben sie doch tatsächlich in einem dieser Gänge Hunderte von Kinderleichen gefunden.«
»Wie bitte?« fragte Jan erschrocken.
»Keine Sorge«, sagte der Wirt hastig. »Sie waren ein paar hundert Jahre alt, mindestens.«
Plötzlich grinste er, auf eine Art, die ihn eine Menge von der Sympathie kostete, die Jan bisher für ihn aufgebracht hatte. »Wie es der Zufall will, lagen die meisten davon in einem unterirdischen Gang, der früher wohl einmal zwei Klöster miteinander verbunden hat. In einem davon lebten Nonnen und in dem anderen unsere frommen Brüder, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Davon habe ich nie gehört«, erwiderte Jan, ernst und ganz bewußt ohne auf den anzüglichen Unterton in der Stimme des anderen einzugehen.
»Kunststück. Glauben Sie, die Typen im Rathaus legen besonderen Wert darauf, solche Details über die Stadtgeschichte an die große Glocke zu hängen? Oder etwa die Kirche?«
»Sie mögen sie nicht besonders, wie?« fragte Jan.
»Wen? Die Kirche oder unsere Freunde in der Stadtverwaltung?«
»Beide?« vermutete Jan.
»Ich bin Gastronom«, antwortete der Wirt. »Haben Sie jemals einen Gastwirt getroffen, der noch keinen Krach mit den Ämtern gehabt hat? Alles, was die interessiert, sind Steuern und immer neue Mittel und Wege, um uns das Leben schwerzumachen.« Er seufzte, trank wieder an seinem Bier und gab sich dann einen sichtbaren Ruck. »Entschuldigen Sie! Ich wollte Ihnen nicht mit meinen Problemen auf den Wecker gehen. Ist wohl noch zu früh für mich.«
»Für mich auch.« Jan leerte sein Glas, kramte in der Tasche nach Kleingeld und sah gleichzeitig auf die Uhr. »Ich bin wirklich nicht sicher, ob ich im richtigen Lokal bin. Wissen Sie, welches der anderen hier schon geöffnet hat?«
»Um diese Zeit? So gut wie alle. Es ist Mittag. Die Leute wollen essen.«
»Außer bei Ihnen.«
»Kommen Sie heute nacht wieder, dann erkennen Sie das hier nicht wieder. Die Kids stehen auf Kellergewölbe und Friedhofsatmosphäre.«
Jan lächelte zwar, aber er glaubte mittlerweile auch zumindest zu ahnen, von welchen Schwierigkeiten mit den Behörden der Wirt gesprochen hatte. Keine Stadtverwaltung der Welt hätte es gerne gesehen, wenn ihre historischen Stätten zu einem Treffpunkt der Grufti-Szene gemacht wurden.
Bevor er in die Verlegenheit kam, antworten zu müssen, wurden auf der Treppe Schritte laut. Jan und der Wirt sahen gleichzeitig auf.
Vera trug ihre üblichen, schrägen Klamotten und darüber die Lederjacke von gestern abend. Den Riß über der Schulter hatte sie mit einem Stück Heftpflaster geflickt, und ihr Arm schien ihr keinerlei Schwierigkeiten mehr zu bereiten, denn sie bewegte ihn völlig normal. Katrin hingegen hatte sich so radikal verändert, daß Jan sie im allerersten Moment kaum erkannte.
Sie hatte sich komplett neu eingekleidet und war beim Friseur gewesen. Ihr Frisur war beileibe nicht mit der Veras zu vergleichen, aber auf eine schwer zu definierende Art erinnerte sie Jan zugleich doch wieder an sie, und sie schien bei ihrem morgendlichen Streifzug durch die Boutiquen und Kaufhäuser nicht nur ihre Kleidungsstücke, sondern auch ihren Geschmack geändert zu haben. Jan konnte nicht auf Anhieb entscheiden, ob ihm diese Veränderung gefiel oder nicht. Aber er konnte einschätzen, daß die neuen Kleider, die Katrin trug, gewiß nicht billig gewesen waren. Kleider wie diese konnte sie sich normalerweise nicht leisten.
»Du hattest recht«, sagte Katrin zu Vera gewandt und in einem aufgebrachten Ton, der eine Menge über das verriet, worüber sie sich bisher unterhalten hatte. »Er ist tatsächlich gekommen.«
»Hast du etwa daran gezweifelt?« Vera kicherte, ließ sich schwer auf eine der niedrigen Bänke fallen und blinzelte Katrin verschwörerisch zu. »Wenn
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