Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel
plötzlich, daß er mitten im Schritt erstarrte und sich für zwei oder drei Sekunden lang allen Ernstes fragte, ob neben seinem Herzen und seinem Nervenkostüm vielleicht auch noch sein logisches Denken unter den Ereignissen der vergangenen Tage gelitten hatte. Er mußte blind gewesen sein: Dieser Junge war genau wie Vera.
Er hatte ihre Augen.
Aber er hatte nicht nur ihre Augen. Da war noch mehr; unendlich viel mehr. Sein Haar war so wenig schmutzig und ungepflegt wie seine Kleider abgerissen und altmodisch waren; beides wirkte nur so, weil es irgendwie Teil einer Realität zu sein schien, die sich ein winziges Stückchen von der entfernt hatte, die Jan bisher kannte.
»Warte!« rief Jan. Dann schrie er, so laut er konnte: »He! Junge! Bleib stehen!«
Vermutlich war es das Vernünftigste, was er hatte tun können, und er hatte es sogar gewußt, zumindest geahnt. Aber es war ihm gleich. Er rannte los und stellte ohne besondere Überraschung fest, daß sich der Junge einen Sekundenbruchteil vor ihm in Bewegung gesetzt hatte und mit noch viel weniger Überraschung, wie schnell er war.
Der Junge und er waren nicht allein auf dem Platz, und Jan war sich darüber im klaren, daß er eine ziemlich auffällige Show darbot. Ein halbes Dutzend Passanten blickte fragend oder auch spöttisch in seine Richtung, und ganz tief in seinem Bewußtsein regte sich eine Stimme, die ihm zuflüsterte, daß er in einer Zeit lebte, in der es für einen erwachsenen Mann ziemlich kompromittierend sein konnte, am hellichten Tag lauthals schreiend hinter einem Kind herzurennen.
Nichts davon zählte. Er mußte diesen Jungen einholen, ganz gleich wie und um welchen Preis. Er wußte nicht einmal, was er ihn fragen wollte, aber es war vielleicht seine erste wirkliche Spur, der erste Hinweis, der ihn zu Veras Geheimnis führte. Es war ihm gleich, ob die Leute ihn für übergeschnappt hielten oder gar für einen potentiellen Kinderschänder. Er mußte mit diesem Jungen reden.
Unglücklicherweise bekam er ihn nicht zu fassen.
Schon seit ihrer ersten Begegnung hatte er gewußt, daß der Junge schnell war, aber nicht, wie schnell. Jan holte ihn zwar ein, mit pfeifenden Lungen und mit einem Herzschlag wie das Trommelsolo eines Heavy-Metal-Drummers, der eine Überdosis Speed genommen hatte, aber als er die Hand nach ihm ausstreckte, um ihn an der Schulter zu packen, war der Junge unerklärlicherweise nicht mehr da, wo er hingegriffen hatte. Statt dessen befand er sich plötzlich einen halben Meter weiter links, so daß Jan ins Leere stolperte und um ein Haar gestürzt wäre. Fluchend schlug er einen Haken, um diesmal mit beiden Händen … ins Leere zu greifen. Der Junge war plötzlich auf der anderen Seite. Es war, als versuche er ein Phantom zu fangen, einen Schatten, dem der Körper abhanden gekommen war.
Jan fand mit einem ungeschickten Stolperschritt sein Gleichgewicht wieder und drehte sich schwer atmend um. Mittlerweile starrte so ziemlich jeder auf dem Marktplatz in seine Richtung. Der Junge, der vor einer Sekunde noch einen Meter vor ihm gewesen war, stand nun mindestens zwanzig Schritte entfernt in einem schmalen, vergitterten Hauseingang und starrte ihn aus seinen sonderbaren Augen an. Jan konnte nicht sagen, ob der Ausdruck darin Spott oder Verachtung war. Vielleicht beides.
»Aber das ist doch … unmöglich«, murmelte er.
»Was ist unmöglich?« Jan wandte nur kurz den Blick undsah einen dunkelhaarigen Mann mit südländischem Gesicht auf sich zukommen. »Geht es Ihnen gut? Sind Sie in Ordnung?«
Jan ignorierte ihn. Er machte einen Schritt auf den Jungen zu und blieb wieder stehen, aus der absurden Furcht heraus, er könnte wie ein Gespenst wieder verschwinden und an einer anderen Stelle materialisieren.
Statt dessen verzog das Kind die Lippen zu einem dünnen, aber nun eindeutig herablassenden Lächeln, drehte sich herum und schob das Metallgitter auf, vor dem es stand.
»Warte!« schrie Jan.
Er stürzte los. Der Passant, der sich nach seinem Befinden erkundigt hatte, prallte mit einem erschrockenen Laut zurück und entging um Haaresbreite dem Schicksal, einfach über den Haufen gerannt zu werden. Jan raste über den Platz, stürmte durch die Tür und wäre fast die schmale Treppe hinuntergefallen, die fast unmittelbar dahinter begann. Während er sich mit der linken Hand an der unverputzten Ziegelsteinmauer abstützte, sah er den Jungen gerade noch am unteren Ende der Treppe verschwinden.
Jan rannte weiter, prallte fast
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