Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel
wenn das Lokal schon geöffnet hatte, würden sich Katrin und Vera ganz bestimmt nicht dort mit ihm treffen wollen. Katrin haßte Kneipen. Was Vera mit dem antiquierten Wort Gasthaus gemeint hatte, war mit Sicherheit ein Restaurant, was die Auswahl auf weniger als die Hälfte reduzierte. Trotzdem, es half nichts: Er würde wohl oder übel in jedem Lokal nachfragen müssen.
Jan machte kehrt, überquerte den Platz in entgegengesetzter Richtung und hielt dabei nach Katrins weißem Golf Ausschau, konnte ihn aber nirgendwo entdecken. Vielleicht hatte sie den Wagen auf dem alten Parkplatz abgestellt.
Während er die breite Treppe zum höhergelegenen Friedhof hinaufstieg, sah er sich ein zweites Mal und deutlich aufmerksamer um. Er entdeckte auch diesmal weder Vera noch Katrin oder ihren Wagen, aber dafür etwas anderes: Unter der Tür des historischen Zeughauses stand eine schlanke, schäbig gekleidete Person, die ihn aus mißtrauisch zusammengekniffenen Augen beobachtete. Irgend etwas daran war … falsch .
Jan konnte nicht sagen, was, aber das Gefühl war zu intensiv, um es zu ignorieren. Er konnte regelrecht spüren, daß er angestarrt wurde. Auf der zweitobersten Stufe blieb er stehen, drehte sich direkt in Richtung des wuchtigen Gebäudes und starrte die leicht gebückt dastehende Gestalt seinerseits an. Im allerersten Moment war an dem Anblick nichts Außergewöhnliches. Es schien sich um einen Jungen zu handeln, zwölf, vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre alt, mit schmutzigem langem Haar und noch schmutzigeren Kleidern, die ebenso wie ihr Besitzer bessere Tage gesehen zu haben schienen.
Dann erkannte er ihn.
Es war nicht irgendein Junge.
Es war der Junge, den er in dem unterirdischen Labyrinth unter dem Ratskeller gesehen hatte.
Als hätte er seine Gedanken gelesen, drehte sich der Junge in diesem Moment um, machte zwei Schritte nach links und blieb wieder stehen. Er drehte den Kopf, sah erneut in Jans Richtung und ging dann mit entschlossenen Schritten, aber ohne Hast, weiter.
»He!« rief Jan. »Warte!«
Der Junge blieb erneut stehen, warf ihm einen auffordernden Blick über die Schulter hinweg zu und ging dann abermals weiter.
Jan konnte nur noch mit Mühe den Impuls unterdrücken, einfach hinter ihm her zu rennen. Der Junge wollte, daß er ihm folgte, das war offensichtlich; aber Jan wußte auch, daß er jetztkeinen Fehler begehen durfte. Ebenso deutlich, wie Jan erkannte, daß der Junge sich ihm absichtlich gezeigt hatte, war auch, daß er ihm auf keinen Fall zu nahe kommen durfte. Er hatte diesen Fehler schon einmal gemacht und um ein Haar mit dem Leben bezahlt.
Während er sich in einem komplizierten Zickzack-Kurs zwischen den geparkten Wagen hindurchschlängelte, versuchte er den seltsamen Burschen ein wenig genauer in Augenschein zu nehmen. Er korrigierte seine Schätzung, was das Alter des Jungen anging, um ein paar Jahre nach oben, aber das war auch schon beinahe alles, was er über seinen sonderbaren Führer sagen konnte. Aus irgendeinem Grund war er … nicht richtig zu erkennen. Als glitte sein Blick einfach von ihm ab, wie ein Lichtstrahl an einem Spiegel, der so geschliffen war, daß er das Licht ablenkte, nicht zurückwarf. Seine Kleidung war sonderbar, nicht nur zerschlissen, sondern auf eine schwer in Worte zu kleidende Weise altmodisch.
Der Junge hatte das Ende des Parkplatzes erreicht und verschwand für einen Moment aus seinem Blickfeld, als er in die schmale Gasse hinter der Basilika trat. Jan beschleunigte seine Schritte, hütete sich aber zugleich, wirklich zu rennen. Er wollte den Jungen nicht verscheuchen. Er griff in die Tasche, zog die Kamera heraus und überzeugte sich davon, daß er noch genug Speicherplatz für zwei Fotos hatte. Im stillen verfluchte er sich dafür, ausgerechnet diese Kamera eingesteckt zu haben. Wahrscheinlich würde er selbst bei stärkster Vergrößerung kaum mehr als einen verschwommenen Farbfleck auf dem Monitor erkennen. Er verbarg die Kamera so gut es ging in der rechten Hand und drückte auf den Auslöser, als er um die Basilika herumtrat und den Jungen kaum zehn Schritte vor sich erblickte. Er hatte auf ihn gewartet.
Jan blieb wieder stehen. Der Junge ging weiter, trat auf den Kirchenvorplatz hinaus und blickte kurz und auffordernd inseine Richtung. Er hatte … sonderbare Augen, fand Jan. Er war zu weit entfernt, um Einzelheiten zu erkennen, aber etwas am Blick dieses Jungen war unheimlich.
So wie an Veras Blick.
Die Erkenntnis kam so
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