Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel
von diesem … Leichenschmaus . Aber wir sollten hingehen, und wenn es nur für ein paar Minuten ist.«
Das hatte er gar nicht sagen wollen. Es wäre seine Aufgabe gewesen, dieses Treffen zu organisieren, ganz egal, ob er es nun wollte oder nicht. Er hatte es vergessen, was schlimm genug war, aber die anderen hatten ihn nicht einmal gefragt. So unbedeutend war die Rolle, die er in Peters Leben gespielt hatte.
»Gut«, sagte er. »Ich komme. Aber laßt mich … noch ein paar Minuten allein.«
»Selbstverständlich«, sagte Katrin. »Ich warte im Wagen.«
Sie ging. Diesmal, das spürte er, hatte er sie verletzt. Was für alle anderen hier galt, traf auf sie nicht zu. Sie hatte das Recht, an seiner Trauer teilzuhaben, und er hatte die verdammte Pflicht, sie mit ihr zu teilen. Mit Vera hätte er sie geteilt, aber sie wollte das nicht.
Nach einigen weiteren Momenten entfernte sich auch der Geistliche. Er hatte noch eine Weile dagestanden und ihn angesehen, und Jan hatte genau gespürt, daß er etwas zu ihm hatte sagen wollen, war zu seiner Erleichterung aber schließlich doch gegangen. Trotzdem spürte Jan, daß er nicht allein war.
»Er war hier.«
Vera trat neben ihm aus dem Schatten und wurde von einem Schemen zu einem Ding , dann zu einem Menschen. Sie war schön wie immer. Er mußte sich beherrschen, um sie nicht an sich zu reißen und sie gleich hier auf der Stelle zu nehmen.
»Ich weiß.« Er hatte es die ganze Zeit gespürt. Die Leere hier war nicht leer. Dies hier war ihr Reich: das Refugium der Toten und derer, die sich von ihnen nährten. Vermutlich war genau das der Grund, aus dem sich die meisten Menschen auf einem Friedhof so unwohl fühlten, und nicht das Begreifen dereigenen Sterblichkeit. Der wirkliche Grund war viel subtiler. Was hatte Vera gesagt? Wir sind die Jäger, und ihr seid die Beute. Vielleicht spürte das Opfer einfach die Anwesenheit des Raubtieres. Er fragte sich, wie viele Kreaturen mit fahlen Augen und leblosen Pupillen in genau diesem Moment unsichtbar rings um ihn herum durch die Schatten schlichen.
»Ich hatte gehofft, daß wir ihn hier kriegen«, fuhr Vera fort. »Aber er ist klug. Er hat gespürt, daß wir ihm eine Falle gestellt haben, und ist wieder gegangen.« Sie lachte gezwungen.
»Macht nichts. Wir kriegen ihn.«
»Da wäre ich nicht so sicher«, antwortete Jan. »Wenn er wirklich so klug ist, dann wird er verschwinden und sich das, was er braucht, am anderen Ende der Welt holen.«
»Er ist schlau«, sagte Vera. »Aber er ist auch er. Du hast ihn herausgefordert. Er muß dich vernichten. Und er muß es schnell tun. Er wird heute oder morgen zuschlagen. Ich bin ganz sicher.«
»Dann sollte ich vielleicht nicht zu diesem lustigen Mittagessen gehen«, murmelte Jan.
»Im Gegenteil. Solange du unter Menschen bist, bist du wahrscheinlich sicher. Er wird es nicht wagen, vor so vielen Zeugen zuzuschlagen.«
»Und wenn doch?« Diese Menschen bedeuteten ihm nichts, aber er wollte sie trotzdem nicht in Gefahr bringen.
»Unwahrscheinlich«, beharrte Vera. Sie warf einen kurzen, fast gehetzten Blick in die Runde, dann lächelte sie wieder, als wäre nichts geschehen. »Ich muß jetzt gehen. Bleib dort, solange du kannst. Und sorg dafür, daß du allein zurückkommst. Wir treffen inzwischen alle notwendigen Vorbereitungen.«
»Vorbereitungen?«
Vera hob die Schultern. »Wenn du einen Kampf nicht vermeiden kannst, dann solltest du wenigstens versuchen, das Schlachtfeld zu bestimmen.«
»Ich nehme an, du meinst meine Wohnung«, sagte Jan säuerlich. »Aber viel zu verwüsten ist da ja sowieso nicht mehr.«
Vera lachte leise, trat einen Schritt zurück und verschwand. Diesmal konnte er sehen, wie es geschah, nicht sehr deutlich, aber doch klar genug, um eine ungefähre Ahnung zu bekommen, wie es funktionieren mochte: Sie war nicht wirklich unsichtbar.
Sie war noch immer da, aber sie gestattete ihm nur noch, zu sehen, was hinter ihr lag.
Er trat ein letztes Mal an das Grab, sah auf den mit Blumen und Tannengrün bedeckten Sarg hinab und suchte vergeblich in sich selbst nach Trauer oder Schmerz. Da war nichts. Nur Zorn. Ihm war etwas weggenommen worden, und das machte ihn wütend, aber er empfand keinen Schmerz. Er dachte wieder an Veras Gesicht, das Blut auf ihren Lippen, ihre Zunge, welche die kostbaren Tropfen gierig aufleckte, und für einen ganz kurzen Moment fragte er sich, wer von ihnen beiden eigentlich der Schlimmere war.
Aber eigentlich wollte er die Antwort gar
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