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Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel

Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel

Titel: Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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außerdem mindestens ebenso unwohl in ihrer Haut fühlten wie er, aber Jan zog es vor, die andere Version zu glauben. Seltsam – er hatte nie zu den Menschen gehört, die mit Aggressionen reagierten, wenn ihnen weh getan wurde. Aber ihm war auch noch nie so viel auf so grausame Weise weggenommen worden.
    »Ich hätte es verstanden, weißt du?« Katrin wirkte ein bißchen irritiert, weil er nicht nur nicht geantwortet, sondern ihre Worte offensichtlich gar nicht gehört hatte. »Ich finde Beerdigungen grauenhaft. Sie helfen niemandem, aber sie tun jedem weh.«
    »Es ist schon gut«, murmelte Jan. Nichts war gut. Er hatte einfach das Erstbeste gesagt, was ihm in den Sinn kam.
    Der Trauerzug setzte sich in Bewegung. Niemand sprach. Die einzigen Geräusche waren das Rascheln des Regens und das unregelmäßige Kollern des Katafalks, auf dem der Sarg lag. Der Friedhof war ebenso groß wie alt; sie brauchten annähernd zehn Minuten, um den Seitenweg zu erreichen, an dem das Familiengrab der Fellers lag, eingerahmt zwischen einem steinernen Engel mit gespreizten Flügeln auf der einen und einer Marmorgruft in griechischem Stil auf der anderen Seite. Beides wirkte zu groß, zu protzig und ähnelte den Worten des Pfarrers: geschliffen und perfekt, aber trostlos. Symbole eines Totenkults, der ihm nichts sagte. Mit einem Mal konnte er verstehen, warum Katrin angenommen hatte, er würde nicht kommen. Er wünschte sich, er wäre zu Hause geblieben.
    Er hätte den Morgen mit Vera im Bett verbringen können.
    Der Gedanke erschreckte ihn so sehr, daß er heftig zusammenfuhr und Katrin ihm einen besorgten Blick zuwarf. Er gehörte nicht hierher. Dieser Ort gehörte den Toten und der Trauer, er war wahrlich der letzte Platz auf der Welt, um an Sex zu denken – und die Beerdigung seines einzigen Bruders war wahrlich der letzte Moment dazu. Und trotzdem tat er es. Er konnte nicht anders.
    Er schämte sich für diesen Gedanken, so heftig, als hätte er ihn laut ausgesprochen und als würden ihn alle vorwurfsvoll anstarren. Und trotzdem war in seiner Erinnerung für nichts anderes Platz als für die vergangene Nacht.
    Sie hatten sich nicht einmal außergewöhnlich lange geliebt, aber mit einer Intensität und Tiefe, die er bis zu diesem Moment nicht einmal für möglich gehalten hatte. So wie sich unter der Maske der Vampirin der Körper einer Göttin verbarg, so überraschend war die absolute Lust, die sie vermittelte; ein Gefühl von einer Tiefe, wie er es niemals zuvor erlebt hatte. Er wollte es wieder haben. Er mußte es wieder haben – jetzt, morgen, in jedem Moment für den Rest seines Lebens.
    Er hatte dabei nichts von alledem empfunden, was er für Katrin empfand. Im Gegenteil: Er hatte sich in jeder Sekunde, in der sie beieinander gelegen hatten, für das gehaßt, was er tat. Er hatte sich dafür geschämt, und er schämte sich noch. Er starrte den Sarg an, dem sie im Schrittempo folgten, aber er tat es eigentlich nur, um Katrin nicht in die Augen sehen zu müssen.
    Er würde es ihr sagen. Noch heute. Sobald dieses grausame Schauspiel hier vorbei und sie wieder allein waren, würde er es ihr sagen, auch wenn er tief in sich spürte, daß das das Ende ihrer Beziehung bedeuten würde. Aber er mußte es tun. So, wie er Vera wiedersehen mußte.
    Er hatte sich tausend Entschuldigungen zurechtgelegt, undeine klang so gut wie die andere: Er konnte argumentieren, daß Vera ihre unheimlichen Kräfte benutzt hatte, um ihn zu zwingen. Sie hatte ihn genommen, nicht er sie. Er konnte anführen, daß er in einer Ausnahmesituation gewesen war, sowohl physisch als auch psychisch. Er konnte argumentieren, daß sie ihn schlichtweg verführt hatte – sie war vermutlich die schönste Frau der Welt, und kein Mann, in dem noch ein Funken Leben war, hätte ihr widerstehen können. Er konnte noch hundert andere Argumente ins Feld führen, und einige davon waren wirklich gut. Vermutlich hätte er sich selbst und auch Katrin tatsächlich davon überzeugen können, daß ihn keine Schuld traf, aber die Wahrheit war sehr viel einfacher: Er hatte sie gewollt. Und er wollte sie noch. Vera hatte ihn süchtig gemacht, und es war eine Sucht, der er sich mit Haut und Haar hingeben wollte.
    Sie hatten das Grab erreicht, ein rechteckiges Loch neben einem flachen Erdhügel, der schlampig mit ein paar Tannenzweigen abgedeckt war. Ein verchromtes Metallgestell nahm den Sarg auf, der lautlos und in würdevoller Langsamkeit in die Tiefe gelassen wurde.
    Das war der

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