Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel

Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel

Titel: Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
Vom Netzwerk:
wehrst du dich gegen dich selbst?«
    Sie hatte recht. Er hatte sie immer gewollt, von dem Moment an, in dem er sie nackt im Bad gesehen hatte. Kein normaler Mann auf dieser Welt hätte der Verlockung ihres perfekten Körpers widerstehen können. Sie war nicht einfach eine Frau; sie war das Sinnbild allen Weiblichen, die fleischgewordene Versuchung, die etwas in ihm ansprach, das älter und sehr viel mächtiger als sein Verstand war. Er hatte sie gewollt, und wahrscheinlich war das auch der Grund für seine Feindseligkeit gewesen. Auf einer tiefen, seinem Bewußtsein entzogenen Ebene hatte er gespürt, daß dieser Moment kommen würde, und Angst davor gehabt.
    Trotzdem versuchte er noch einmal, sich zu wehren: Er ergriff ihre Schulter und versuchte sie von sich wegzustoßen, aber es war unmöglich. Sie war viel zu stark für ihn.
    Und in der nächsten Sekunde wollte er es schon nicht mehr.

E s war sehr kalt in der kleinen Kapelle. Vielleicht hatte er die Kälte auch mitgebracht – er hatte auf dem ganzen Weg hierher gefroren, und daran hatte auch die Heizung nichts geändert, die der Taxifahrer auf seine Bitte hin bis zum Anschlag aufgedreht hatte. Die Kälte war in ihm, und sie schien schlimmer zu werden, mit jedem Schritt, den er sich dem schlichten Holzaltar am anderen Ende der Kapelle näherte – als brenne tief in ihm ein eisiges Feuer, das sich ganz allmählich ausbreitete, langsam, aber unauslöschbar.
    Vermutlich lag es an ihm.
    Es war nicht die erste Beerdigung, auf die er ging. Er hatte schon seine Eltern zu Grabe getragen und vor einigen Jahren einen guten Freund – vielleicht den einzigen wirklichen Freund, den er jemals gehabt hatte. Aber es war niemals so wie heute gewesen.
    Er hatte sich nie so einsam gefühlt.
    Der Pfarrer, der vor dem aufgebahrten Sarg Aufstellung genommen hatte, räusperte sich dezent. Das Geräusch riß Jan aus seinen Gedanken und machte ihm klar, daß der junge Geistliche nicht der einzige war, der ihn anstarrte. Er hatte die Kapelle als letzter betreten, obwohl er beinahe als erster auf dem Friedhof angekommen war. Die einfachen Bänke waren noch nicht einmal zur Hälfte besetzt. Trotzdem kannte Jan nur wenigeGesichter; Freunde oder vielleicht auch Kollegen von Peter. Sie waren zwar Brüder gewesen, hatten aber so gut wie keine Berührungspunkte gehabt, in ihren grundverschiedenen Lebensweisen.
    Eine sonderbare Melancholie ergriff von Jan Besitz, während er sich umdrehte und den Platz in der ersten Reihe ansteuerte, den Katrin für ihn freigehalten hatte. Der einzige Platz, auf dem ein Verwandter des Toten saß. Ihre Familie war nie groß gewesen. Nun bestand sie nur noch aus ihm.
    Katrin nickte ihm wortlos zu und griff nach seiner Hand, als er sich neben sie setzte. Er ertrug ihre Berührung nur für zwei oder drei Sekunden, dann zog er den Arm zurück und faltete die Hände im Schoß. Katrin wirkte nicht verletzt, nur traurig. Woher sollte sie auch wissen, weshalb er ihre Nähe nicht ertrug?
    Der Pfarrer räusperte sich erneut, klappte seine Bibel auf und begann mit leiser, sehr routinierter Stimme zu lesen. Jan hörte nicht hin. Er hätte es nicht einmal gekonnt, wenn er es gewollt hätte. Er kam sich unwirklich vor. Fehl am Platze. Was um alles in der Welt tat er eigentlich hier? Weder Peter noch er waren jemals große Kirchgänger gewesen, was nichts mit ihrer Einstellung zur Religion zu tun hatte. Er sollte nicht hier sein. Die Worte des Geistlichen dort vorne spendeten keinen Trost. Sie hätten es nicht einmal dann getan, wenn er geglaubt hätte, was der Mann in der bestickten weißen Robe sagte …
    Irgendwie hielt er die Zeremonie durch. Er wußte nicht, wie, aber die Zeit verging, und schließlich erhob sich die kleine Trauergemeinde und verließ die Kapelle.
    Es war noch kälter geworden, und passend zum Anlaß hatte es leicht zu regnen begonnen. Jan ging ein paar Schritte zur Seite, vorgeblich, um dem Geistlichen und den vier Sargträgern in seinem Gefolge Platz zu machen, in Wahrheit aber, um sich von der Gruppe abzusondern. Abgesehen von Katrin, Dieterund zwei weiteren Freunden kannte er niemanden hier. Er empfand beinahe Zorn. Was suchten all diese fremden Menschen hier? Die Trauer um Peter gehörte ihm allein. Er wollte sie nicht teilen.
    »Ich dachte schon, du kommst nicht«, sagte Katrin. Dieter und sie waren die einzigen, die ihm gefolgt waren, als spürten die anderen seine Feindseligkeit. Wahrscheinlicher war, daß sie seine Trauer akzeptierten und sich

Weitere Kostenlose Bücher