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Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel

Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel

Titel: Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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schlimmste Teil: Noch vor wenigen Minuten hatte er sich einzureden versucht, daß ihm dieses Zeremoniell nichts bedeutete, aber selbstverständlich war das nicht wahr. Was dort in die Erde hinabgelassen wurde, waren nur eine Holzkiste und ein lebloser Körper. Zwei tote Behälter; einer für etwas, das nicht mehr da war, der andere für etwas, das bald nicht mehr da sein würde. Aber die Zeremonie des Abschiednehmens war wichtig. Sie spendete keinen Trost, aber sie war wichtig.
    Der Pfarrer wartete, bis die Sargträger den Lift abgeschaltet und sich diskret zurückgezogen hatten, dann stellte er sich neben das offene Grab und begann mit dem zweiten Teil seiner Ansprache, dem Jan ebensowenig zuhörte wie dem ersten. Erdachte an Vera, an die vergangene Nacht. Sie war phantasievoll und wild gewesen, auf eine Art fordernd, die er niemals erfüllen konnte, und er war schließlich einfach eingeschlafen, ohne es zu merken. Als er aufgewacht war, vielleicht eine Stunde vor Sonnenaufgang, hatte sie noch neben ihm gelegen; es war die Hitze ihres Körpers gewesen, die ihn geweckt hatte. Sie hatten sich ein zweites Mal geliebt, zärtlich und ausdauernd diesmal, und schließlich war sie es gewesen, die in seinen Armen eingeschlafen war. Er hatte die Gelegenheit genutzt, sie – vielleicht zum erstenmal – wirklich anzusehen, und er hätte sich fast gewünscht, es nicht getan zu haben. Sie war so schön, daß es fast weh tat, sie anzublicken. Zum erstenmal in seinem Leben hatte er angefangen zu begreifen, warum Männer Kriege begonnen und ganze Völker in den Untergang geführt hatten, nur um eine einzige Frau zu besitzen. Er selbst tat nichts anderes. Wenn er Vera haben wollte, mußte er Vlad töten.
    Er würde es tun. Nicht nur weil er Peter umgebracht und sein Leben zerstört hatte, sondern allein, weil er zwischen ihm und dem einzigen stand, das noch zählte. Vera.
    Es war absurd: Die ganze Zeit, in der er dalag und Veras wundervollen Körper betrachtete, war ihm klar, daß sie nicht das war, was er sah. Sie hatte es selbst gesagt: Er sah nur das, was sie ihm zu sehen gestattete . Aber es spielte keine Rolle. Sie mochte das Ding sein, das er auf dem Bildschirm seines Computers und dem Monitor der kleinen Kamera gesehen hatte, aber was er sah , war alles, wovon er jemals geträumt hatte. Tief in sich drin wußte er sogar, daß Vera ihr Äußeres vermutlich genau nach seinen Wünschen erschaffen hatte. Sie hatte in ihn geblickt und sein persönliches Maß der Dinge gesehen. Sie war nicht die, sondern seine ganz persönliche Traumfrau. Mimikri zur Perfektion getrieben. Wahrscheinlich war sie nicht einmal ein Mensch. Es war gleich. Er dachte an ihr Gesicht, ihreLippen und Zähne, die feucht und rot von seinem Blut waren, und etwas in ihm zerbrach fast vor Begierde.
    »Es ist gleich vorbei.«
    »Was?« Jan schrak aus seinen Gedanken hoch und blinzelte verwirrt in Katrins Gesicht. Sie sah besorgt aus, fast erschrocken.
    »Ich sagte: Es ist gleich vorbei«, wiederholte Katrin. »Hältst du noch so lange durch?«
    Sie hatte in sein Gesicht gesehen, aber natürlich deutete sie den Schmerz darin falsch. Es wurde ohnehin Zeit, nach dem Schlimmsten nun den allerschlimmsten Teil der morbiden Zeremonie in Angriff zu nehmen: Als einzigem Blutsverwandten des Verstorbenen oblag ihm die Aufgabe, sich neben dem Grab zu positionieren und die Beileidsbekundungen der Anwesenden entgegenzunehmen. Er ertrug es schweigend, aber nur mit letzter Kraft. Eine Prozession fremder, größtenteils gefaßter Gesichter, die ihm nichts bedeuteten und deren Mitleid – obwohl vermutlich zum allergrößten Teil echt – er nicht haben wollte.
    Schließlich, nach einer Ewigkeit, war es vorbei. Er stand allein neben dem offenen Grab und starrte demonstrativ ins Leere, weil er nicht wollte, daß ihn jemand ansprach, und die meisten Trauergäste respektierten diesen Wunsch. Einzig eine junge Frau – ihr Gesicht kam ihm vage bekannt vor; vermutlich war sie eine Kollegin seines Bruders – steuerte auf ihn zu, wurde aber von Katrin abgefangen, die ein paar Worte mit ihr wechselte und dann nach einem kurzen Blick in seine Richtung nickte.
    »Wer war das?«
    »Sie haben einen Tisch in einer Gastwirtschaft ganz hier in der Nähe reserviert«, sagte Katrin, ohne seine Frage direkt zu beantworten. »Ich habe zugesagt, daß wir kommen.«
    Sie hob die Hand, als er antworten wollte, und fuhr mitleicht erhobener Stimme fort: »Ich weiß, was du sagen willst. Du hältst nichts

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