Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel
ihnen vollkommen und unwiderruflich zerstören würde, wenn er jetzt dorthin ging. Die zweite – schlimmere – war, daß er seine letzte Chance verspielenwürde, wenn er den Wagenschlag öffnete und den Fahrer tatsächlich tot fand. Wenn Vera wirklich das war, wofür er sie hielt, war er im gleichen Moment tot, in dem sie begriff, daß er die Wahrheit kannte.
»Entschuldige«, sagte er. »Ich bin anscheinend schon leicht paranoid. Du hast vollkommen recht: Wir haben Wichtigeres zu tun.« Er machte eine vage Geste in die Runde. »Wieso sind wir hier herausgefahren?«
»Weil er hier ist.« Vera deutete auf den Boden zwischen ihren Füßen. »Ganz in unserer Nähe.«
»Hier?!«
»Wir leben im Untergrund«, bestätigte Vera. »Anders als du wahrscheinlich glaubst, aber trotzdem: Er ist hier. Ich kann seine Nähe spüren.«
»Hier?« fragte Jan noch einmal. Es fiel ihm schwer, Vera zu glauben. Es war nicht nur so, daß er nicht einmal genau wußte, wo sie sich befanden; sie waren kilometerweit von jeder Stelle entfernt, an der er Vlad auch nur vermutet hätte.
Vera machte eine Bewegung auf den kantigen Umriß hinter sich. »Der Einstieg ist gleich dort hinten«, sagte sie. »Ich zeige dir den Weg – aber ich werde nicht bei dir sein, wenn du hinuntersteigst. Du bist wirklich sicher, daß du es tun willst?«
Jan nickte, aber die Bewegung war nur eine Reaktion auf ihre Stimme, nicht wirklich eine Antwort. Etwas … stimmte nicht. Vlad war gewiß kein Gegner, der ihn zu einem ritterlichen Zweikampf herausforderte, vermutlich wußte er nicht einmal, was das Wort ›Fairneß‹ bedeutete. Aber er war auch nicht dumm. Er würde ihn nicht zu einem Ort bestellen, den er gar nicht finden konnte.
Es sei denn, er hatte gewußt, daß er Hilfe haben würde …
Er nickte nur.
»Also gut«, sagte Vera. »Komm mit.«
Sie drehte sich um und ging mit schnellen Schritten voraus.Ihre Art, sich zu bewegen, machte Jan klar, daß sie sich hier entweder gut auskannte oder in der Dunkelheit sehr viel besser sehen konnte als er. Er selbst sah noch immer nicht mehr als Schatten und ein paar große, kantige Umrisse, aber plötzlich erklang vor ihm das charakteristische schrille Quietschen von Scharnieren, die selten bewegt und noch seltener geölt wurden. Dann fiel ein blasser, breiter werdendes Dreieck aus Licht auf den Boden. Sie hatte eine Tür geöffnet.
»Beeil dich«, zischte sie. »Wahrscheinlich gibt es irgendeine Alarmanlage, die jetzt schon losheult. Wir haben nicht viel Zeit!«
Jan beschleunigte seine Schritte und schlüpfte hinter ihr durch die Tür. Das blasse Licht, das sie empfing, stammte aus zwei trüben Glühbirnen, die hoch unter der Decke eines weitläufigen, mit Metallgittern und klobigen Maschinen vollgestopften Raumes brannten. Wenn schon nicht die Maschinen, die er sah, ihm verrieten, wo sie sich befanden, so tat dies doch ganz zweifelsfrei der vorherrschende Geruch.
»Das ist … eine Kläranlage!« sagte er überrascht.
»Ich habe es mir nicht ausgesucht.« Veras Antwort erfolgte unüberhörbar im Tonfall einer Verteidigung. »Frag mich nicht, warum er hier ist. Vielleicht ziehen ihn Abfälle an.«
Jan zog die Tür hinter sich zu und sah sich aus eng zusammengekniffenen Augen um. Er gewöhnte sich allmählich an das schwache Licht, und was er sah … erstaunte ihn. Er war niemals hiergewesen – er hatte nicht einmal gewußt, daß es so etwas in seiner Heimatstadt gab –, aber alles war ganz anders, als er es erwartet hätte, hätte er es erwartet. Der Raum war sehr groß und vom summenden Vibrieren schwerer Maschinen erfüllt, die irgendwo tief unter ihren Füßen laufen mußten. Unter der Decke liefen eine Anzahl breiter, geländergefaßter Laufstege aus metallenen Gittern entlang, und der Geruchnach Fäulnis und Fäkalien war im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend. Jan verspürte fast sofort einen heftigen, immer stärker werdenden Brechreiz. Er schluckte ein paarmal, um ihn zu unterdrücken, aber er war nicht einmal sicher, ob er ihn damit nicht nur schlimmer machte.
»Hier?« fragte er. »Ich meine, du … du bist ganz sicher, daß er … hier ist?«
»Nicht sehr weit entfernt«, bestätigte Vera. Sie wirkte sehr ernst, angespannt. »Und ich fürchte, er weiß, daß wir kommen.« Sie schwieg einen Moment. »Mein Fehler. Ich spüre seine Nähe …«
»Und er deine, ich verstehe«, murmelte Jan. Er war nicht einmal wirklich erschrocken oder gar zornig. Vielleicht, weil er sich einfach damit
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