Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel
Geräusche, die produziert wurden. Zum Beispiel von Menschen.
Er ging trotzdem immer langsamer. Er hatte nicht vergessen, was er gerade über den Jungen gedacht hatte. Vielleicht lebte er ja nicht allein hier unten. Und vielleicht waren die, mit denen er lebte, von dem ungebetenen Besucher noch weniger erbaut als der Junge.
Schließlich hielt er es nicht mehr aus und benutzte sein Feuerzeug. Die Flamme war bereits deutlich kleiner geworden, aber seine Augen mußten sich wohl an das schwache Licht hier unten gewöhnt haben, denn er konnte trotzdem besser sehen als zuvor: Der Gang erstreckte sich noch gute zehn Meter weiter geradeaus und gabelte sich dann erneut. Von dem Jungen war nichts mehr zu sehen. Was das Geräusch verursacht hatte, war kein Mensch, sondern ein Vertreter der eigentlichen Herrscher dieses unterirdischen Reiches: eine Ratte. Sie starrte Jan eine Sekunde lang aus ihren winzigen schwarzen Knopfaugen an, dann fuhr sie mit einem erschrockenen Quieken herum und trippelte davon.
Jan ließ das Feuerzeug erlöschen und schüttelte den Kopf. Er war wirklich nervös. Er mußte aufpassen, daß er nicht aus lauter Nervosität einen wirklich schlimmen Fehler beging.
Die gelbe Gasflamme war erloschen. Jan sah noch einen Moment lang flackernde rote Nachbilder, genau wie die letzten Male, aber auch, als sie erloschen, wurde es vor ihm nicht vollkommen dunkel. Aus dem nach rechts abzweigenden Gang drang ein matter, dunkelroter Lichtschein, den er unter normalen Umständen wahrscheinlich nicht einmal wahrgenommen hätte.
Vorsichtig tastete er sich weiter, erreichte die Abzweigung und lugte mit angehaltenem Atem um die Ecke.
Was er für eine Gangkreuzung gehalten hatte, war eine Art Alkoven mit einer niedrigen Gewölbedecke. Er maß kaum drei Schritte im Quadrat und war vollkommen leer.
Das hieß: Er war menschenleer . Aber es war nicht zu übersehen, daß noch vor wenigen Augenblicken jemand hier gewesen sein mußte. Genauer gesagt: Mehr als ein Jemand.
Das rote Licht, das ihn hergeleitet hatte, stammte von einem Feuer, das noch vor kurzem in diesem Raum gebrannt und das jemand in großer Hast – aber nicht besonders sorgfältig – gelöscht hatte. Jan benötigte nur ein paar Augenblicke, die erlöschende Glut wieder zu einer kleinen, flackernden Flamme zu entfachen. Was er in dem unsicheren Licht sah, war zwar bemerkenswert, aber nicht besonders aufschlußreich. Der Boden des Alkovens war mit zerschlissenen Lumpen und Stoffetzen übersät. Jemand hatte vor kurzem hier gelagert. Vor sehr kurzem.
Jan durchsuchte das hastig aufgegebene Lager, und seine Verwirrung stieg mit jedem Moment. Etwas stimmte nicht mit dem Bild, das sich ihm bot. Er wäre nicht einmal besonders überrascht gewesen, hier unten ein Lager zu entdecken, das irgendwelche Obdachlosen aufgeschlagen hatten, die diese unheimliche Umgebung einer Nacht unter freiem Himmel vorzogen. Aber etwas fehlte. Er fand keine Zigarettenkippen, keine leeren Wein- oder Bierflaschen, nicht das winzigste Indiz, das Rückschlüsse auf die Besitzer dieses suburbanen Appartements zuließ. Dafür fand er etwas, was ihn wirklich erschreckte: Eine Ratte, die an einem Stock aufgespießt und schon deutlich angesengt war, als hätte jemand versucht, sie über dem Feuer zu braten, bevor er gestört wurde.
Das war unheimlich. Und erschreckend.
Und vielleicht waren das nicht einmal die richtigen Worte.
Das richtige Wort war: Unwirklich.
Das war es. Nichts hiervon gehörte zu der Realität, die er bisher gekannt hatte.
Jan preßte die Augen zu, zählte in Gedanken bis drei und wartete darauf, daß sich der schleichende Irrsinn legte, der ihn befallen zu haben schien. Er tat es nicht. Er tarnte sich nur hinter irgendwelchen vorgeschobenen rationalen Erklärungen, die einer kritischen Betrachtung keine Sekunde lang standgehalten hätten.
Er sah sich noch einmal mit größerer Aufmerksamkeit in dem gemauerten Gewölbe um, ohne jedoch irgend etwas Neues zu entdecken. Ein winziger Raum aus nacktem Stein, in dem jemand ein Feuer entzündet und auf Lumpen gelagert hatte. Jemand, der Ratten aß. Das war vollkommen verrückt.
Andererseits war die Welt zugegebenermaßen voller Verrückter. Wieso wunderte er sich eigentlich, wenn er jetzt auf die Spuren einiger davon traf?
Er durchwühlte die Lumpen ein zweites Mal und ebenso erfolglos wie gerade, richtete sich schließlich auf und nahm einen der längeren Stöcke aus dem Feuer mit, als er den Alkoven verließ. Wenigstens
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