Dunkel - Hohlbein, W: Dunkel
nicht einmal unbeabsichtigte Versprecher war fast mehr, als Jan heute noch hinnehmen konnte. Es war eine Sache, wenn Katrin beschlossen hatte, sich wie eine Löwenmutter vor ihr verletztes Junges zu stellen, aber eine vollkommen andere, wennsie Jan damit öffentlich ausspielte. Ihre Diskrepanzen gingen niemanden etwas an; und der Grund dieser Meinungsverschiedenheiten schon gar nicht.
»Es ist wirklich nur eine Schramme«, sagte Vera. »Es tut schon kaum noch weh.«
Jan starrte unverblümt ihre Hände an. Sie waren frisch gewaschen und offenbar so gründlich geschrubbt worden, daß die Haut einen rosigen Schimmer angenommen hatte. Trotzdem konnte er die Platzwunden auf ihren Knöcheln deutlich erkennen. Nichts Schlimmes, aber trotzdem: Wunden wie diese konnten eigentlich nur auf eine Art entstehen: Wenn man jemanden schlug.
Vera setzte die Brille wieder auf, griff nach der Kanne und schüttete sich einen Kaffee ein. Katrin gab Milch dazu, ließ ihren Blick prüfend über den Tisch wandern und runzelte übertrieben die Stirn. »Habe ich den Zucker vergessen?«
Die Dose mit Würfelzucker stand praktisch vor ihrer Nase. Sie selbst hatte sie vor ein paar Minuten dorthin gestellt, zusammen mit dem Rest der Mitternachtsmahlzeit. Trotzdem stand Katrin auf, schüttelte noch einmal den Kopf und verschwand mit schnellen Schritten in der Küche.
Kaum waren sie allein, nahm Vera erneut ihre Brille ab, sah ihn aus ihren durchdringenden, unheimlichen Augen an, daß ihm fast ein kalter Schauer über den Rücken lief, und fragte dann: »Hast du es ihr gesagt?«
»Ich weiß nicht einmal, wovon du sprichst«, antwortete Jan. »Aber was immer es ist, die Antwort ist nein.«
»Gut«, sagte Vera. »Ich weiß, wie schwer das für dich zu verstehen ist. Ich fühle mich auch nicht gut dabei, glaub mir. Aber ich werde dir alles erklären – sobald wir allein sind.«
»Das ist nicht nötig«, antwortete Jan. Er blickte nervös zur Küche hin. Katrin klapperte und hantierte dort so laut herum, als lege sie Wert darauf, die gesamte Nachbarschaft zu wecken.»Und wir werden bestimmt nicht allein sein, Vera. Ich möchte, daß du verschwindest. Auf der Stelle.«
»Das kann ich nicht«, antwortete Vera. »Und ich bin –«
»Es interessiert mich nicht, was du kannst oder bist«, unterbrach sie Jan und machte eine wütende Kopfbewegung auf ihren bandagierten Arm. »So wenig wie das da. Wenn du Probleme hast, dann geh zur Polizei. Die sind dafür da, Leuten mit Problemen zu helfen. Wenn es wirklich nur ein dummer Unfall war, dann verschwinde.«
»Das kann ich nicht«, sagte Vera noch einmal, aber Jan unterbrach sie erneut und jetzt in noch schärferem Ton:
»Du kannst, und du wirst. Ich habe genug eigene Sorgen, ohne mir auch noch deine aufhalsen zu müssen. Ich bin dir sehr dankbar für das, was du für Katrin und mich getan hast, aber jetzt ist es gut. Geh. Verschwinde aus dieser Wohnung, und verschwinde vor allem aus unserem Leben.«
»Wenn ich das tue, seid ihr beide in vierundzwanzig Stunden tot«, sagte Vera.
Das war so grotesk, daß Jan am liebsten laut aufgelacht hätte, und zugleich jagte es ihm einen eisigen Schauer über den Rücken. Da war irgend etwas in ihrer Stimme, irgend etwas im Blick ihrer sonderbaren Augen, was ihren Worten jede Lächerlichkeit nahm.
Aber zumindest im Moment hatte er noch genug freien Willen, um es sich einfach selbst zu verbieten, länger als zwei oder drei Sekunden über den Sinn dieser kryptischen Botschaft nachzudenken.
Plötzlich fiel ihm auf, daß das Klappern aus der Küche aufgehört hatte, und erst in diesem Moment wurde ihm klar, daß das schon vor ein paar Sekunden passiert war. Er sah fast erschrocken hoch und begegnete Katrins Blicken, die in der Küchentür stand und abwechselnd Vera und ihn mit einer Art irritiertem Mißtrauen betrachtete.
Wenn ich das tue, seid ihr innerhalb von vierundzwanzig Stunden tot. Er konnte immer noch nicht sagen, was der Sinn dieser Warnung war, aber er wußte einfach, daß er sie ernst nehmen mußte. Er hatte in den letzten Tagen zu viel erlebt und gesehen, um nicht mehr auf seine Ahnungen zu hören.
Katrin blinzelte plötzlich, starrte die Zuckerdose auf dem Tisch mit einem Ausdruck so vollkommenen Unverständnisses an, daß es schon fast komisch aussah, und raffte sich dann zu einem nervösen Lächeln auf.
»Da ist er ja«, murmelte sie verwirrt. Sie schüttelte den Kopf. »Ich werde anscheinend alt.«
Sie setzte sich und sah abwechselnd Jan und
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