Dunkel wie der Tod
soll. Ich vermisse dich einfach.
âIch denke, dass Sie keineswegs die ganze Geschichte kennen, Pfarrerâ, sagte sie.
âIch glaube dochâ, erwiderte er milde und lieà seinen Blick auf der Narbe an ihrer Braue ruhen.
âDann verstehen Sie sicher, weshalb ich keinerlei Bedürfnis verspüre, ihn zu besuchen.â
âAuch Sie sind nur ein Mensch, und der Mensch versucht von Natur aus, sich zu schützen. Das verstehe ich durchaus.â
âAber â¦?â
âAber er hat sich verändert.â
Sie blickte zu Boden und schüttelte den Kopf. âPfarrer â¦â
âWissen Sie, warum er Lesen und Schreiben gelernt hat?â
Sie schaute auf.
âDer Unterricht ist freiwillig. Zweimal die Woche kommt eine Lehrerin aus der Gegend hierher. Er besucht ihre Stunden schon seit Jahren. Und wissen Sie, warum?â Als sie nicht antwortete, tat er das: âDamit er Ihnen schreiben kann.â
Ungläubig sah sie ihn an.
âEr mag meinen Gottesdienst am Sonntag nicht besuchen â meint, dass der Papst nicht einverstanden wäre. Aber ich gebe jeden Mittwochnachmittag freiwillige Bibelstunden, und er hat noch keine einzige versäumt. Oft bleibt er danach noch, um mit mir zu reden. Er erzählt mir, was ihm so durch den Kopf geht, bittet mich um Rat ⦠Manchmal beten wir gemeinsam.â
Sie schwieg weiterhin.
âKommen Sie mir jetzt nicht damit, dass ein Mensch sich nicht verändern könneâ, sagte er.
âNatürlich ist das möglich. Aber Duncan, er ist â¦â
âEs gibt keine Ungeheuer auf Erdenâ, wiederholte er. âAuch er ist nur ein Mensch. Ein schwacher Mann zwar, der vom rechten Pfad abgekommen ist, doch seit er das eingesehen hat, arbeitet er sehr hart daran, ein besserer Mensch zu werden.â
Eingehend betrachtete sie den Boden. Nell, ich schwöre bei Gott, dass ich dir nicht mehr schreiben werde wenn du mich nur einmal besuchst und mich dir sagen lässt wie leid es mir tut.
âWir haben ein Besuchszimmerâ, lieà Pfarrer Beals sie wissen. âZu dieser Zeit ist es meist leer. Duncan ist zwar gerade drüben in der Steinwerkstatt, aber ich könnte â¦â
âIch will nicht mit ihm allein seinâ, sagte sie.
Eine Sekunde verstrich. Dann lächelte der Geistliche. âIch werde vor der Tür stehen bleiben und warten â damit ich höre, wenn Sie nach mir rufen.â
6. KAPITEL
âNell?â Duncan stand auf der Türschwelle des kleinen, karg möblierten Besuchszimmers und schaute sie an, als sei sie eine Vision der Heiligen Jungfrau Maria. Selbst in einem ärmellosen Unterhemd und gestreiften Gefängnishosen, Steinstaub im honigblonden Haar und auf der schweiÃbedeckten Haut, sah er beängstigend gut aus.
Gefährlich gut.
Gut aussehender Kerl, aber zu nichts nutze, um mit den Worten von Bridies Mutter zu sprechen.
Pfarrer Beals, der hinter Duncan stand, suchte Nells Blick und sagte: âIch warte drauÃen.â
Sie nickte. Duncan kam herein, duckte sich unwillkürlich ein wenig, wie groÃe Männer das oft tun, und schon hatte Pfarrer Beals die Tür hinter ihm geschlossen.
Einen langen Augenblick sahen sie sich schweigend an.
âIch kannâs ja gar nicht glauben!â, meinte Duncan dann mit schroffer und dabei doch irgendwie sanfter Stimme, die sie immer an das Schnurren eines Löwen erinnert hatte. âIch hätte nicht gedacht, dass du jemals kommen würdest. Und jetzt bist du doch gekommen, und schau nur, wie ich aussehe!â Er klopfte sich seine Hose ab, wobei eine Staubwolke aufstob, die in den Sonnenstrahlen glitzerte, die durch das vergitterte Fenster einfielen. âUnd schau dich nur anâ, sagte er leise und fast ehrfürchtig. âMein Gott, Nell, du siehst ja aus wie â¦â
Sichtlich beeindruckt musterte er sie â das schicke Hütchen, das schmeichelnd geschnittene Kleid mit dem Prinzessrock, ihre behandschuhten Hände, die sie fest ineinander verschränkt hielt, ihre Augen, ihren Mund â¦
âDu siehst aus wie â¦â Wie eine Dame. Zumindest glaubte sie, dass er das sagen würde. Stattdessen sagte er: âWie ein Engel.â
Nell verspürte das törichte Bedürfnis, ihm für das Kompliment zu danken, doch es schien ihr die Sprache verschlagen zu haben, und sie brachte kein Wort hervor.
Er machte einen Schritt auf sie zu.
Sie wich zurück und
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