Dunkel wie der Tod
die Schreibutensilien untergebracht waren, mit der Höhe des gesamten Kastens. Und es schien so, als befände sich am Boden tatsächlich ein schmaler Hohlraum, etwa zwei Finger breit.
âHeureka.â Sie legte das Pult auf den Boden.
âGefunden?â Will setzte sich auf.
âIch weiÃ, wo es ist, und wenn mich nicht alles täuscht â¦â Sie griff mit zwei Fingern in das Tintenfach und drückte leicht auf den hölzernen Boden. Nichts geschah. âVerdammtâ, murmelte sie.
Will lachte leise und drückte seine Zigarette auf einem der Teller aus. âWie ich es doch liebe, derlei unziemliche Worte aus ihrem sittsam ungeschminkten Munde zu vernehmen, Cornelia.â
Sie warf ihm einen finsteren Blick zu und drückte erneut, diesmal aber fester. Der Boden gab kaum merklich nach, doch Nell hörte ein metallisches Quietschen, und dann sprang ein mit einem Scharnier versehenes Brett an der Seite des Faches auf.
âAh! Was ein wenig berechtigter Zorn nicht alles vermag â¦â Will beugte sich zusammen mit Nell über das Briefpult, um in die flache Schublade spähen zu können, die sich im Innern aufgetan hatte. âHeureka, in der Tat.â
In der Lade befand sich ein Stapel Briefe, vielleicht ein Dutzend. Nell nahm sie heraus und erkannte sogleich das grobe bräunliche Papier der Umschläge. Sie musste gar nicht auf den Absender schauen, um zu wissen, dass sie aus dem Massachusetts State Prison in Charlestown abgeschickt worden waren.
âGanz gleich, ob Virgil Pfarrer Beals nun geschrieben hatâ, meinte Will, als er ihr die Briefe abnahm und sich die Umschläge ansah, die allesamt gleich waren, âoffensichtlich hat aber der Pfarrer an Virgil geschrieben.â
Nell schüttelte den Kopf. Auf einmal fiel ihr das Atmen schwer â so, als habe sie ihr Korsett zu eng geschnürt. Ihre Stimme klang dünn und selbst in ihren eigenen Ohren weit entfernt, als sie sagte: âDie sind nicht von Pfarrer Beals.â
Will schaute sie fragend an, musterte dann erneut die Umschläge. âEs steht kein Name bei der Absenderadresse. Weshalb meinen Sie â¦â
âSie sind von Duncan. Es ist seine Handschrift.â
12. KAPITEL
Will öffnete den Brief mit dem frühesten Poststempel zuerst. Nell schaute ihm über die Schulter und las mit.
15. Mai 1868, Charlestons Stinkloch
Virge, du fauler Hunt,
wird auch Zeit, dass du schreibst, ich dacht schon du hättst es dir villeicht anderst überlegt, aber so dumm bist du dann doch nicht. Gut für dich, dass du durchgekommen bist und wenn ich dir erst sag wo du die Klunkerketten findest wird das noch viel besser für dich.
âKlunkerketten?â, fragte Will.
âErinnern Sie sich noch, wie ich Ihnen erzählte, dass Duncan im Gefängnis sitzt, weil er bei einem Raubüberfall einen Mann zusammengeschlagen und mit dem Messer schwer verletzt hat?â
âIhn verstümmelt hat, soweit ich mich erinnere.â
âEs war ein Juwelier â Ripleyâs in Newport. Duncan hat die gesamte Belegschaft ins Hinterzimmer gesperrt und dann dem alten Mr. Ripley befohlen, die Vitrinen zu öffnen, doch der hat sich geweigert.â Nell holte einmal tief Luft. âDeshalb hat Duncan ihn ⦠hat ihn gefesselt und geknebelt, und dann ⦠hat er sein Messer genommen und â¦â
Will rieb sich bedächtig mit dem Finger über den Nasenrücken.
âAber Ripley war clever. Sobald ihm klar wurde, dass Duncan vorhatte, ihn zu Tode zu foltern, begann er zu schreien, dass er Schmerzen in der Brust hätte und sank in sich zusammen. Duncan dachte, er sei wirklich tot, nahm sich die Maske vom Gesicht, zertrümmerte die Vitrinen und schnappte sich die besten Stücke. Der alte Mann war allerdings noch recht lebendig â übel zugerichtet zwar, aber am Leben â, konnte sich befreien und rief die Polizei herbei, kaum dass Duncan geflüchtet war. Bloà bekamen sie ihn erst den Tag darauf zu fassen, und bis dahin hatte er die Beute bereits über das gesamte Cape verstreut versteckt â ein paar Stücke hier, ein paar dort â¦â
âHat er Ihnen nicht gesagt, wo die Sachen waren?â, wollte Will wissen.
âDu lieber Himmel, nein! Das hätte er mir niemals erzählt. Er wusste, dass ich zutiefst empört wäre, wenn ich herausfinden würde, was er getan hatte â und das war ich dann ja auch. Ich sagte
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