Dunkel wie der Tod
tiefe Spurrillen inmitten eines verwilderten Obstgartens, der voller Apfelbäume stand â, konnte Nell schon aus der Entfernung erkennen, dass dieses Haus niemals einen Anstrich bekommen hatte. Es war ein traditionelles Saltbox-Haus mit flachem Anbau nach hinten raus, rundum mit Holzschindeln verkleidet, die in einem halben Jahrhundert harter neuenglischer Winter zu einem stumpfen bräunlichen Grau verwittert waren. Hinter dem Haus stand eine halb zerfallene Scheune.
Als sie am Morgen in Salem eingetroffen waren, hatte Will sie gleich zur City Hall gefahren, einem nicht besonders groÃen, dafür aber sehr eindrucksvollen Gebäude mit Granitfassade, auf dem ein goldener Adler thronte. Leider hatte Will recht gehabt, und das Rathaus war samstags geschlossen; einzig einen alten Schwarzen trafen sie an, der die Böden schrubbte. Von ihm erfuhren sie, dass Ephraim Brown â der örtliche Standesbeamte und Archivar â an der Putman Street Ecke Clement wohnte.
Mr. Brown fanden sie auf dem Dach seines Hauses vor, wo er in der bereits recht heiÃen Morgensonne dabei war, die Dachschindeln zu erneuern. Hemd und Haar waren nass geschwitzt, sein Gesicht feuerrot. Ziemlich gereizt von der Hitze und entschlossen, oben auf dem Dach zu bleiben, bis die unerfreuliche Arbeit getan war, lehnte er Wills Bitte ab, ob er sie nicht die Grundbucheintragungen in der City Hall durchsehen lassen könne. Auch dass sein Besucher schlieÃlich ein Bündel Fünfdollarnoten zückte, konnte ihn nicht umstimmen. Erst als Will Hut und Gehrock ablegte, sich die Hemdsärmel hochkrempelte und auf das Dach kletterte, um dabei zu helfen, die restlichen Schindeln festzunageln, lieà sich Mr. Brown erweichen.
Will erwies sich als erstaunlich geschickter Dachdecker, und keine Stunde später schloss Mr. Brown ihnen bester Laune das Archiv auf. In einem der Grundbücher stieÃen sie schlieÃlich auf einen Eintrag, demnach ein Mann namens Lawrence White am 7. Juni 1829 ein Grundstück von neun Morgen GröÃe ungefähr zwei Meilen südlich von Salem erworben hatte. Die Versicherungsgesellschaft, auf welche die letzte der zahlreichen Hypotheken ausgestellt war, hatte ihre Forderung vor anderthalb Jahren geltend gemacht, für das Gehöft anscheinend aber noch keinen neuen Käufer gefunden.
âRiechen Sie das?â, fragte Nell nun, da sie zum Haus hinauffuhren.
Will brachte die Pferde zum Stehen und wandte sein Gesicht in die warme Brise, die durch die Obstbäume wehte und den süÃlich vergorenen Geruch von Fallobst mit sich brachte â vermischt mit etwas, das noch fauliger roch als verfaultes Obst. Der unheilvolle Geruch wehte von einem wild überwucherten Feld her, das östlich der Obstwiese gelegen war.
Will schüttelte den Kopf und sagte: âDie Opiate haben meinen Geruchssinn zerstört. Was riechen Sie?â
âDen Tod.â
Er sah sie an. âGlauben Sie nicht, dass Sie sich das nur â¦â
âIch bilde es mir nicht einâ, erwiderte sie. âHier verwest etwas.â
âVielleicht nur ein Tierâ, meinte er und schlug kurz mit den Zügeln.
âHoffentlich.â
Als sie vor dem Haus vorfuhren, hatte der Geruch nachgelassen, sodass Nell ohne zu zögern an die Tür klopfte. Die Tür gab unter ihrer Hand nach, öffnete sich mit einem leisen Knarren und gab den Blick frei auf eine geräumige, doch fast völlig leere Stube. Auf dem Dielenboden lagen keine Teppiche, an den Fenstern hingen keine Vorhänge, und die zerbrochenen Scheiben waren teils mit Holz vernagelt. Es roch nach altem Haus, staubig und ein wenig moderig, obwohl durch die weit geöffneten Fenster die warme Sommerluft hereinwehte. Es mochte trostlos sein und bedauerlich armselig, doch Nell sah auch, dass alles ordentlich gehalten war und der Boden sauber gefegt, was darauf schlieÃen lieÃ, dass die Bewohner â genauer gesagt Bridie, denn dies war ihr zweites Zuhause â das Haus für mehr als einen vorübergehenden Unterschlupf hielten.
Die nördliche Wand wurde fast gänzlich von einer wuchtigen steinernen Herdstelle eingenommen, in der noch die verglühten Kohlen lagen. Es schien, als sei das Feuer von selbst ausgegangen, da niemand mehr danach gesehen hatte. In der Asche stand ein Rost â nur der Rost, ohne Topf oder Pfanne darauf â, oben auf dem Herd ein tönerner Topf mit Schmalz, daneben ein zusammengefalteter
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