Dunkel wie der Tod
Glück habenâ, meinte sie, als Will sie eilig zur Vordertür hinausdrängte.
âDas hat nichts mit Glück zu tun, sondern mit Mathematik â und mit gesundem Menschenverstand. Jedem, der ein paar Zahlen zusammenzählen und voneinander abziehen kann â und nicht so dumm ist, sich auf ein abgekartetes Spiel einzulassen â, sollte es gelingen, öfter zu gewinnen als zu verlieren. Und mehr braucht es letztlich nicht.â
Sie liefen auf den Gehsteig hinaus und hielten zwischen all den Kutschen und Pferdegespannen, die laut klappernd über den Bowdoin Square fuhren, nach einer Mietdroschke Ausschau. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, sodass an den meisten Kutschen helle Laternen brannten.
âAber selbst Sie müssen zumindest einen leisen Verdacht gegen Harry habenâ, sagte Nell. âOder wollen Sie ihm einfach nur helfen, sich aus seiner misslichen Lage zu befreien, und dabei die Möglichkeit völlig auÃer Acht lassen, dass er kaltblütig zwei Menschen ermordet haben könnte?â
âGlauben Sie denn, dass ich das tun würde?â
âNein.â
Will schaute sie einen Augenblick lang an und schien sehr erfreut über ihre Antwort zu sein. âDanke.â Er trat auf die StraÃe, den Arm erhoben. Ein kleines Gespann, braun und mit offenem Verdeck, fuhr seitlich heran. âIch werde mich selbst seiner Schuld oder seiner Unschuld vergewissern, aber bis dahin sehe ich keinen Grund, warum seine Mutter davon erfahren sollte, dass er zu diesen Morden vernommen wird. City Hallâ, sagte er zu dem Fahrer.
âSie bedeutet Ihnen also doch etwasâ, stellte Nell fest, als er ihr in den Wagen half. âDas war mir bereits im April aufgefallen, als wir uns kurz auf dem Friedhof gesehen hatten und Sie Ihrem Vater sagten, dass er einen Fahrstuhl für sie einbauen lassen solle.â
âIch hätte mir allerdings denken können, dass er so reagieren würde, wie er es dann getan hat.â Will nahm ihr gegenüber Platz, und der Kutscher lenkte das Gespann zurück auf die StraÃe. âEr verabscheut technische Neuerungen â abgesehen von jenen, die seine Gewinnspanne erhöhen.â
âNun hat er aber begonnnen, sich konkret danach zu erkundigen.â
âSie machen Witze.â
Nell schüttelte den Kopf. âVor einigen Wochen war ein Ingenieur im Haus und hat erste Entwürfe angefertigt. Ich glaube, dass Ihr Vater tatsächlich vorhat, einen Fahrstuhl einbauen zu lassen.â
âEinen dampfbetriebenen?â
âNein, einen mit Flaschenzugsystem â wie ein groÃer Speiseaufzug.â
âImmerhin â¦â
Nell lächelte. âJa, immerhin.â
15. KAPITEL
âWas zum Teufel macht sie hier?â, platzte Harry zur BegrüÃung heraus, als Nell und Will das Büro von Detective Colin Cook in der City Hall betraten.
Es war ein viel schöneres und geräumigeres Büro als die stets unordentliche kleine Kammer, die Cook auf der Wache Williams Court gehabt hatte, wenngleich auch hier überall Zettel, Akten und Bücher ein wildes Durcheinander bildeten und die Wände gepflastert waren mit Suchmeldungen und teils recht unerfreulichen Bildern von Tatorten. Doch glücklicherweise war der Raum doppelt so groà wie jener in Williams Court und hatte zudem an zwei Seiten Fenster, die nun weit offen standen, um die frische Nachtluft hereinzulassen und den Rauch von Harrys Zigarre zu vertreiben.
Harry saà â oder vielmehr lümmelte â hinter Cooks Schreibtisch, vor sich ein Glas und eine Flasche Whiskey, und starrte Nell voller Abscheu an. Nell starrte zurück. Ãberrascht sah sie, dass er ein blau geschwollenes Auge hatte und seine Nase bandagiert war. Zwei Männer mittleren Alters, die trotz ihrer Zivilkleidung sogleich als Polizisten zu erkennen waren, belegten die beiden Stühle vor dem Schreibtisch, und Detective Cook selbst lehnte an einem groÃen Aktenschrank. In seinen wie Bärentatzen wirkenden Händen hielt er eine vergleichsweise zierliche Teetasse.
Bulliger Ire, wuchtiger Schädel ⦠Das war Colin Cook.
Alle Männer erhoben sich, als Nell das Büro betrat; Harry starrte sie nur finster an und qualmte weiter mit seiner Zigarre.
Der Detective verbeugte sich. âMiss Sweeneyâ, sagte er, wobei sein irischer Tonfall nur noch schwach herauszuhören war. âEs ist immer eine Freude, Sie zu sehen. Und Dr.
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