Dunkel wie der Tod
bei uns, und ich hab seitdem keine blauen Flecken mehr an ihr gesehen, aber vielleicht gehört er ja zu denen, die erst mal abwarten und dann richtig zuschlagen, wennâs nicht mehr anders geht.â
Oder zu denen, die dorthin schlagen, wo man es nicht sieht, dachte Nell bei sich.
âWenn die beiden zusammen durchgebrannt sindâ, fuhr Fallon fort, âund sie ihn genauso zum Narren hält wie Jimmy ⦠tja, wer weiÃ, was dann geschieht.â
Er nahm sich noch ein Sandwich und fügte hinzu: âOder schon geschehen ist.â
âSie tut mir leidâ, bemerkte Viola, nachdem die Fallons gegangen waren.
âMrs. Fallon?â
Sie nickte. âUnd Bridie. Es ist so leicht, sie ein gefallenes Mädchen zu nennen und als unwürdig abzutun, aber meist ist derlei doch â¦â
âViel komplizierter?â, vermutete Nell und lächelte. Sie hörte diesen Ausspruch nicht das erste Mal von Viola, für die das Leben nicht nur in Schwarz und Weià bestand, sondern unendlich viele Farbschichten verschiedenster Töne und Nuancen bereithielt. Und hatte nicht Mr. Hewitt auch sie einst vor der Schande einer jugendlichen Verfehlung bewahrt, als er sie heiratete, obwohl sie ein Kind â namentlich Will â von einem anderen Mann erwartete? Wie Nell selbst, so wusste auch Viola Hewitt nur zu gut, wie leicht eine Frau durch äuÃere Umstände vom rechten Pfad abkommen konnte ⦠und ebenso gut kannte sie die Folgen, wenngleich sie ihr selbst erspart geblieben waren.
Nun meinte sie: âIch möchte Sie um etwas bitten.â
Nell seufzte.
âWenn ich mich selbst darum kümmern könnteâ, sagte Viola rasch, âwürde ich es tun. Aber mit diesen nutzlosen Beinen â¦â
âMrs. Hewitt â¦â
âAls Will letzten Winter verhaftet wurde, waren Sie mir eine solche Hilfe. Ich weiÃ, dass Sie herausfinden können, was mit Bridie geschehen ist. Sie haben so etwas an sich ⦠die Menschen vertrauen Ihnen â sie erzählen Ihnen Dinge, die sie anderen gegenüber gerne verschweigen. Und Sie haben einen so scharfen Verstand, Nell. Ihnen entgeht nichts.â
âIch tappte ehrlich gesagt recht häufig im Dunkelnâ, bekannte Nell. âUnd wenn Sie wüssten, wie oft ich die falschen Schlüsse gezogen habe â¦â Sie schlussfolgern zu viel, hatte Will stets zu ihr gesagt. Viel zu viele voreilige Vermutungen. Und er hatte recht gehabt.
âHarry wird ihr keine Hilfe seinâ, befand Viola. âMr. Hewitt auch nicht. Diese arme Frau hat auÃer mir niemanden, an den sie sich wenden kann! Und ich habe nur Sie, Nell.â
âIch muss mich um Gracie kümmern.â
âSie macht jetzt ihren Mittagsschlaf und wird nicht vor drei, halb vier aufwachen. Und dann kann Miss Parrish nach ihr sehen.â
âSie möchten, dass ich gleich heute damit beginne?â
âMir scheint hier jede Minute zu zählen. Ich sage Brady sofort Bescheid, dass er Sie mit dem Brougham nach Charlestown hinüberfahren soll, damit Sie keine Mietkutsche nehmen müssen. Und ein Schreiben mit meiner Empfehlung und Bitte um Unterstützung und dergleichen gebe ich Ihnen auch mit â das könnte Ihnen vielleicht hie und da helfen.â Eine von Viola Hewitts eigentümlichen Untertreibungen, war sie doch eine der bedeutendsten Damen Bostons, eine angesehene Philanthropin und Matriarchin einer der ältesten Familien der Stadt. Ihre Empfehlung öffnete einem alle Türen, oder zumindest fast alle.
Nell betrachtete das Muster des Orientteppichs und dachte an alles, was Viola Hewitt ihr in den letzten vier Jahren gegeben hatte, insbesondere an Gracie. Als sie wieder aufsah, begegnete sie Violas wohlwollendem Blick. âSie wissen, dass ich Ihnen die Bitte nicht ausschlagen kannâ, meinte sie.
âIch danke Ihnen, meine Liebe.â Viola giff nach Nells Hand und drückte sie. âSie müssen wissen, dass Sie mir nicht nur meine Beine ersetzen â mehr noch als Gracie sind Sie mir die Tochter, die ich nie hatte. Ich wüsste nicht, was ich ohne Sie tun würde.â
3. KAPITEL
âDas hier ist die Webereiâ, sagte die junge Fabrikarbeiterin, die sich bereitgefunden hatte, Nell zum Arbeitsplatz von Bridie Sullivan zu führen. Das Mädchen musste fast schreien, um den stampfenden Maschinenlärm zu übertönen, der die Tuchfabrik der Hewitts
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