Dunkelkammer: Frank Wallerts erster Fall (German Edition)
in solchen Fällen einfach nicht flexibel genug. Ich wette, dass in dieser Stunde mindestens vier oder fünf Kollegen im Lehrerzimmer gesessen haben. Ich habe aber jetzt ‚Präsenz’ gehabt und deshalb musste ich vertreten, obwohl bekannt war, dass ich einen Termin mit Ihnen habe.“
Ina hatte keine Lust, sich mit dem jungen Mann auf ein Gespräch über mangelhafte Organisationsstrukturen einzulassen, obwohl sie einiges dazu hätte beitragen können. Ina kam zur Sache.
„Am Telefon sagten Sie mir, es ginge um eine Schülerin von Ihnen.“
„Richtig. Ich habe da in der Klasse 7 eine Schülerin, die mir aufgefallen ist, weil sie immer müde ist. Letzte Woche habe ich mich mit ihr unter vier Augen unterhalten und von ihr erfahren, dass sie praktisch völlig auf sich selbst gestellt ist. Was ihre Eltern wirklich machen, weiß sie gar nicht. Aber sie sehen sich kaum und das Mädchen muss sich um sich selbst kümmern. Niemand macht ihr etwas zu essen oder sorgt dafür, dass es einigermaßen versorgt morgens zur Schule kommt.“
Ina hatte aufmerksam zugehört und war fast versucht „Na und?“ zu sagen. Sie spürte hinter den Worten des jungen Lehrers, der sicher noch nicht lange an einer Schule arbeitete, ehrliche Sorge und Ratlosigkeit einer Schülerin gegenüber, die ihm wichtig war - wie alle anderen Schülerinnen und Schüler, der aber fühlte, dass dieses Mädchen den eigenen Eltern relativ unwichtig war. Sie wusste, welche Frage jetzt kommen würde.
„Können Sie mir sagen, ob Ihnen die Familie bekannt ist? Sie wohnen in Ihrem Bezirk.“
Ina atmete durch.
„Herr Kirchhoff, ich arbeite beim Jugendamt!“ Sie versuchte, nicht zu zeigen, wie sie diese Fragen immer wieder nervten. „Sie sollten wissen, dass wir - genauso wie Sie – zur Verschwiegenheit verpflichtet sind.“
„Ich weiß. Ich möchte Ihnen auch nur den Namen nennen. Ich erwarte von Ihnen keine Reaktion. Aber ich möchte mir später nicht vorwerfen müssen, zu spät oder gar nicht reagiert zu haben.“
Ina fragte sich plötzlich, was sie eigentlich hier machte. Mit dreißig sollte ein Mensch durchaus in der Lage sein, die gesellschaftliche Realität anzuerkennen. Dieser Herr Kirchhoff schien Probleme damit zu haben. Er konnte ja nun nicht von ihr erwarten, dass sie sich aller Kinder in ihrem Bezirk annahm, die für ihre Eltern bei dem Versuch, sich in der Berufswelt zu behaupten und nicht ihren Job zu verlieren, zu einem Klotz am Bein geworden waren. Ähnliches antwortete sie Herrn Kirchhoff, der sich nun abwandte und wortlos zu seinem Schreibtisch ging. Mit einer Schachtel Zigaretten kam er zurück und bot auch ihr eine an. Sie griff nickend zu und er reichte ihr Feuer, bevor auch er sich die Zigarette anzündete.
„Wissen Sie,“ begann er, „ich bin noch relativ frisch in meinem Job. Ich kann mich aber nicht damit abfinden, meinen Schülerinnen und Schülern Tag für Tag und Stunde für Stunde irgendwelches Wissen eintrichtern zu müssen, ohne mich für die Menschen dahinter zu interessieren. Ich weiß, dass das viele Kolleginnen und Kollegen so tun, weil sie resigniert haben. Die Kinder, die das fressen, was sie ihnen zu bieten haben, kommen gut weg, die es nicht tun, haben Pech gehabt. Ich hoffe, dass ich nie an einen solchen Punkt komme. Und ich wundere mich, dass Sie nicht so weit davon entfernt zu sein scheinen!“
Ina fuhr jetzt regelrecht hoch.
„Jetzt machen Sie aber mal einen Punkt! Ihr Mädchen, von dem Sie mir erzählt haben, ist eins von Tausenden in dieser Stadt. Ich kann diesem Mädchen nicht morgens die Brote schmieren, wenn es das Haus verlässt. Dafür sind die Eltern da - nicht Sie und auch nicht ich!“.
„Stephanie Wibert heißt das Mädchen.“, unterbrach er sie.
Es schellte. Die Pause war zu Ende.
Ina stand auf und sagte: „Den Namen kenne ich nicht.“
***
Maren und Frank saßen im Wagen und waren auf dem Weg nach Essen-Kettwig. Sie hatten die Essener Kollegen darüber informiert, dass sie beabsichtigten, in ihrem Revier zu wildern. Frank hatte eine CD eingelegt und stellte fest, dass der Montagmorgen – und damit die Woche – nicht besser hätte beginnen können. Sie hatten wirklich Anhaltspunkte durch den Toyota erhalten und konnten diese nun konzentriert verfolgen. Die Stimmung im Team war gut, und auch die Aussprache mit Maren schien den erhofften Erfolg zu haben. Er hatte zwar auch heute Morgen wieder gemerkt, wie es ihn freute, als sie das Büro betrat, aber das war schnell wegen der
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