Dunkelmond
eigenen Tod hat ihr der Fürst mit seiner Gabe genommen!«, schloss er triumphierend.
Ronan gestattete sich einen neugierigen Blick. Doch er legte auch ein wenig Skepsis hinein.
»Wir alle unterliegen dem Tod«, sagte er. »Wie kann der Heermeister eine Seelenherrin besiegen?«
»Sie spricht mit den Geistern«, wiederholte Defrim hartnäckig. »Und die Geister der alten Elbenkönige wollten sie holen, denn sie will sich nicht unterwerfen. Doch der Heermeister zwang ihre Seele wieder in ihren Körper zurück. Und jetzt gehört ihre Macht ganz ihm und seinem Bruder!«
»So wird es jedem Menschen ergehen, der sich Tarind Norandar nicht unterwirft«, knurrte der erste Wachsoldat und trank einen Schluck aus dem geschnitzten Holzbecher, den er in der Hand hielt. »Und jetzt will ich nicht mehr über Menschen reden, sondern von den großen Schlachten und Helden von einst hören!«
»Die Söhne des Dajaram sind von Vanar wahrlich gesegnet«, sagte Ronan freundlich und begann, in sanftem Rhythmus die Verse des Ayanna-Liedes zu rezitieren, das von den glorreichen Siegen der Elben in der ersten großen Schlacht zwischen den Kindern der Zwillingsmonde erzählte.
Nur hin und wieder ließ er den einen oder anderen Ton auf der pathi dazu erklingen, um die Worte, die einst ein elbischer Sänger gedichtet hatte, tiefer in den Geist der anwesenden Kinder des Vanar dringen zu lassen. Es musste, wie die meisten der alten Elbenlieder, gesprochen und nicht gesungen werden. Er kannte das Epos auswendig, und so fiel es ihm nicht schwer, die Worte im richtigen Maß und in der richtigen Abfolge der Verse vorzutragen.
Seine Gedanken schweiften bald von seinem Vortrag ab und glitten zu dem, was Defrim erzählt hatte.
Der Heermeister, der Bruder des Königs, hatte also eine gefangene Dunkelmagierin gerettet, die sich hatte töten wollen. Eine Seelenherrin, wenn man den Worten Defrims Glauben schenken durfte. Ronan fragte sich zwar, wie ihr das gelungen sein sollte, dennoch war er sicher, dass hier von der Dunkelmagierin die Rede war, die den Aufstand im Weberviertel angezettelt hatte und von der er glaubte, dass sie Sinan Amadian besonders am Herzen lag.
Er dachte erneut an die Begegnung im Wald von Dasthuku.
Finde die Nachfahren des ersten Amadian, wenn sie noch leben. Die Nachfahren des Ersten, der vom Dunklen Mond aus Feuer und Erde geschaffen wurde. In seinem Haus vererbte sich die Gabe, die Jenseitigen Ebenen zu betreten, am stärksten.
Sinan der Schmied war ein Amadian. Und er hatte gesagt, dass seine Schwester die Gabe der Seelenherrschaft besitze, genau wie Siwanon, von dem es hieß, dass er das Siegel gehütet hatte.
Ronan rezitierte noch ein paar Verse des Ayanna-Liedes. Er sah kaum, dass sich die Stirn des ersten Wachsoldaten geglättet hatte und er einen Becher mit heißem Gewürzwein neben Ronan stellte.
Der Dampf aus dem geschnitzten Holzbecher kräuselte sich in die Luft und trug Baumharz- und Kräuterdüfte zu dem Sänger, vertrieb die Gerüche nach verschwitzten Körpern, dem Rauch der verbrannten Holzkohle und den Schwarzsteinen im Kamin, sodass Ronan wieder klarer zu denken vermochte.
Durch die geschnitzten Fensterrahmen, die das Maßwerk der nahen Festung nachahmten, sah Ronan ein Stück des Akusu. Wie immer war das Rund des Mondes nur an den düsteren rötlichen Feuern zu sehen, die auf dem tiefen Schwarzbraun glommen, und an der kupferfarbenen, hauchdünnen Sichel, die das Schwarz des Mondes vom Blau des Himmels trennte.
Wenn es noch einen Amadian gibt, dann ist er der eine Teil des Ganzen, der das Siegel finden kann. Und ich sollte mit dem Lied des Akusu seine Seele aufspüren. Doch ich kann diese Frau nicht finden. Was, wenn sie es doch nicht ist?
Der Heermeister hatte die angebliche Hexe, der die Elben die Gabe des Todes nachsagten, besiegt. Bisher hatte Ronan angenommen, damit habe man die Feuermagie dieses Schankmädchens gemeint, das den Aufstand im Weberviertel losgetreten hatte.
Doch auf einmal war er sicher, dass diese Gefangene mit der Herrschaft der Seelen gesegnet war. Eine Seelenherrin. Die Schwester des Schmieds, der ein Sohn des Siwanon war.
Er riss die Augen auf und hätte sich beinahe verhaspelt. Ein Stirnrunzeln des Wachsoldaten, der ihn um das Ayanna-Lied gebeten hatte, brachte Ronan wieder zur Besinnung.
Eine Tochter des Siwanon! Die Gefangene war Sinans Schwester, das erklärte die Sorge, die er für sie empfand.
Alles passte zusammen. Nicht nur ein Kind des Fürsten von Guzar hatte
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