Dunkelmond
Tarinds Massaker im Kloster des Westens überlebt. Nicht nur sein Sohn Sinan, sondern auch Siwanons Tochter!
Finde die Nachfahren des ersten Amadian, wenn sie noch leben. Die Nachfahren des Ersten, der vom Dunklen Mond aus Feuer und Erde geschaffen wurde. In seinem Haus vererbte sich die Gabe, die Jenseitigen Ebenen zu betreten, am stärksten.
Sinan besaß diese Gabe nicht, aber vielleicht gab es doch noch Hoffnung für das Gleichgewicht der Welt. Vielleicht ging sie nicht im Chaos unter, das der wiederkehrende Syth auslöste und zu dem Tarind Norandar, wie die Weisen behaupteten, beitrug, indem er die Kinder des Akusu unterdrückte. Er musste sie finden, noch heute Nacht. Diesmal würde er nicht wieder versagen.
Als Ronan seinen Vortrag beendet hatte, stand er auf.
»Wo willst du hin, Spielmann?«, fragte Defrim stirnrunzelnd. »Ich möchte noch eine Geschichte hören!«
»Es war mir eine Freude, meine Herren, Euch eines der wunderbaren Epen Eures Volks vorzutragen. Doch ich bin ein fahrender Musikant und verweile nie lange an einem Ort.«
Ronan verneigte sich mit einem Lächeln vor Defrim und seinem Gefährten. Er wartete die Antwort nicht ab, sondern verschwand in der Nacht.
Wach auf, Zauberin. Lebst du? Oder hast du dich wieder davongemacht? Erwache! Ich befehle es dir.
Sanara schreckte aus dem Halbschlaf auf, in den sie sich geweint hatte. Sie wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte. Wahrscheinlich nur wenige Minuten. Es war immer noch dunkel, noch immer schien der silberne Mond.
Der Geist, den der Bruder des Königs geschickt hatte – und der vielleicht sogar sein eigener war – trieb auch weiterhin ein böses Spiel mit ihr. Seit dem Versuch, sich mit dem qasarag das Leben zu nehmen, seitdem der Heermeister ihre Seele wieder in ihren Leib gezwungen hatte, war das nebelhafte Wesen da und ließ ihr keine Ruhe. Nur in der Zeit, in der er persönlich anwesend gewesen war und sie gerettet hatte, hatte sie die Anwesenheit des Gespenstes nicht bemerkt.
Du kannst nicht gehen. Der König und sein Bruder brauchen deine Macht. Sie gehört nicht mehr dir.
Kalte Nebelschwaden streckten sich dort aus, wo Finger und Arme hätten sein sollen und strichen über ihren darstan . Sie konnte die Berührung spüren, als hätten die geisterhaften Finger des Gespenstes in ihren Kopf hineingegriffen.
Es quälte sie. Doch sie ertrug es, denn es war nichts im Vergleich zu der Hoffnungslosigkeit, die sie ergriffen hatte.
Sie war gestorben. Doch dann war der Bruder Tarinds gekommen und hatte sich als noch grausamer erwiesen als der König selbst. Er hatte sie, die bereits tot gewesen war, wieder ins Leben zurückgeholt und ihr dazu Erinnerungen aufgebürdet, die kaum zu ertragen waren.
Du gehörst dem König und seinem Bruder. Sie befehlen deiner Magie. Sie gehört nicht mehr dir.
Die Worte des Geistes waren ihr Beweis genug. Das Wesen, das seine Erscheinungsform aus den Jenseitigen Nebeln speiste, war dem Heermeister zumindest untertan. Auch wenn es leugnete, der Heermeister selbst zu sein, war sich Sanara sicher, dass Telarion Norandar es befehligte. Wer sonst als ein Mann, der den Essenzen des Lebens befahl, sollte so etwas wirken können?
Wieder strichen Nebelschwaden wie ein kalter Hauch über ihre Stirn und griffen in ihre Gedanken. Sanara wehrte sich nicht, als das Gespenst ein Gedankenbild nach dem anderen aus ihremKopf holte. Der Geist hatte dies schon mehrfach seit ihrer Heilung getan und schien sich an den Bildern zu ergötzen, die er ihr entlockte.
Der Heermeister, der sich über sie beugt und ihr Gesicht berührt, als sei sie seine Geliebte … Der heulende Sturm auf der endlosen Ebene, Eiskristalle, die sie zu Millionen zu durchbohren scheinen und das Leben erbarmungslos aus ihr hinausjagen … Sie kniet vor Ys, die segnend die Hand über sie hält und ihr zeigt, dass sie nicht allein ist … Der schlanke Körper des Heermeisters vor der Silhouette der Zwillingsmonde … Kurze, schwarze Haarsträhnen, deren Spitzen ihre Handfläche kitzeln, als hielte sie die Federn eines jungen Raben in der Hand. Der Druck kühler Finger auf ihrer Haut, ihre Hand auf dem festen Muskel eines Arms, Lippen, die über ihre streichen. Unendliche Freude, als seine Magie, sein Selbst in sie strömt …
Dann ist sie wieder in diesem Gemach und sieht sein Gesicht über sich. Das Gesicht, das in Ys’ Heiligtum eine besondere Schönheit besaß, ist nun im roten Halbdunkel des schwindenden Tages vor Widerwillen und Abscheu
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