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Dunkelmond

Dunkelmond

Titel: Dunkelmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Picard
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monotonen Verse, sondern starrte durch die Mauerdurchbrüche auf das Stück der mondbeschienen Ebene, die so weit unter ihr lag.
    Wieder glitt sie erschöpft in einen Halbschlaf, eingelullt von Trauer und dem Singsang, mit dem das nebelhafte Wesen sie davon abhalten wollte, sich selbst in Trance zu versetzen.
    Als der Gesang abbrach, schreckte sie auf. Erst war sie erleichtert. Doch dann spürte sie, dass etwas anders war.
    Der Boden unter ihm schien fest zu sein. Und doch hätte der Musikant seine Beschaffenheit nicht beschreiben können.
    Dichter, grauer Nebel umwogte ihn.
    Bei genauerem Hinsehen war zu erkennen, dass das Grau irisierte, als wäre es blau, rot oder gelb, die losen Formen bildeten flüchtige Schatten, als huschten Gestalten durch die Nebel.
    Ronan wusste, dass die Weisen sagten, die Nebel seien lebendig. Die Farben, die ein Seelenherr bei Betreten der Jenseitigen Ebenen sah, waren ein Abglanz der Magien, die jedem lebendigen Wesen auf dieser Welt innewohnten.
    Die Nebel hatten ihn nun entdeckt und drangen auf ihn ein, umringten ihn, tanzten, angezogen von seiner Lebendigkeit. Sie wussten sehr wohl, dass er keiner der Ihren war und stürmten nur umso heftiger auf ihn ein.
    Ronan atmete durch. Er brauchte seine Kraft, wenn er diejenige finden wollte, die zu suchen er gekommen war. Er würde sie rufen können, doch zuerst würden die Toten gehen müssen. Ronan hockte sich auf den Boden und schloss die Augen.
    Leise sang er die Worte, die Akusu den Anführer des Heeres der Menschen während der zweiten Schlacht gelehrt hatte. Die Schwaden wirbelten beim Klang seiner Stimme erregt auf, dann wurden sie blasser und blasser. Sie mussten dem Lied gehorchen.
    Als die letzten Töne der getragenen Melodie Ronans Lippen verlassen hatten, stand er langsam auf und öffnete die Augen. Die Ebene, auf der er nun stand, war völlig leer. Keine Landmarken ragten aus dem Boden, dessen Konsistenz unklar blieb. Keine Berge, Bäume oder Hügel waren zu sehen. Nur unendlich weit entfernt – oder war es ganz in der Nähe?   – deutete ein silbriger Lichtstreifen, der direkt auf einem purpurfarbenen lag, ein Zusammentreffen von dem an, was man in Ermangelung anderer Begriffe Erde und Himmel nennen musste.
    Ronan blinzelte und atmete tief die Luft ein, der jeglicher Geschmack, jedes Aroma zu fehlen schien, so wie dem Himmel über ihm jedes Gestirn fehlte. Kein Mond schien. Es war ein einsamer Anblick, den Ronan mehr fürchtete als alles andere.
    Ihm fielen die Worte der Weisen ein, die ihm gesagt hatten, diese Ebene sei ein Abbild der Leere jenseits dieser Welt, in die Ys einst den Schöpfergeist der Veränderung verbannt hatte. Ys hatte nicht die Macht gehabt, ihren Geliebten zu töten, und doch hatte sie ihn einer unbeschreiblichen Folter ausgesetzt: Sie hatte ihn in eine Welt gestoßen, in der es nichts gab. Keinen Anblick, an dem das Auge sich festhalten konnte, keine Gerüche, kein Geräusch, kein Lebewesen.
    Ronan verdrängte die Furcht. Dann hob er die haqum , die kleine Süßholzflöte, die er mitgebracht hatte, an die Lippen.
    Es war nicht gut, zu lange auf dieser Ebene zu verweilen, doch er konnte den halben Schritt ins Diesseits erst vollziehen, wenn er sein Ziel gefunden hatte. Eine leise, klagende Melodie strich über die Ebene, erfunden, um eine zu suchen, die aus Feuer und Erde gemacht war und die Seelen beherrschte. Und diesmal spielte Ronan sie in einem Rhythmus, der von der Trauer über den Tod erzählte und der Bürde, die diese Gabe bedeutete.
    In dieser Welt konnte Ronan die Töne sehen, während er sie spielte. Sie waren von einem tiefdunklen Rot, das beinahe violett wirkte und vom lohfarbenen Gelb der Faranfrucht; einzelne Funken von düsterem, dunklem Licht, die sich wie aus einem Feuer lösten, ihn erst einhüllten und dann in verschiedene Richtungen über die Ödnis davonschwebten.
    Ronan beobachtete seine Musik, während er sie spielte. Lange Zeit schwebten die Funken, wie schon so oft, ziel- und richtungslos um ihn herum und erloschen nach einer Weile. Es schien ewig zu dauern, bis die Funken, die vor der düsteren Leere, die nur von dem gleichzeitig fernen und doch so nahen Horizont erhelltwurde, ohnehin kaum zu sehen waren, sich sammelten und einen Punkt in der Ödnis anzustreben schienen.
    Winzig klein konnte er plötzlich in der Ferne einen gelblichen Lichtpunkt ausmachen. Er spielte weiter, schickte weiterhin die Töne aus, damit sie ihm den Weg wiesen und ging langsam einen Schritt nach dem

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