Dunkelmond
an sich gedrückt hatte. Der Lokantabaum war in die menschlichen Körper hineingewachsen, der Raqor hatte seine Dornen rücksichtslos in alle Gliedmaßen getrieben und Ondra, Settar und Mehtid so lange festgehalten, bis die Wurzeln und Triebe des Lokanta die wehrlosen Körper langsam und qualvoll zerrissen und zerstört hatten. Die Qual war allen dreien ins Gesicht geschrieben, und während Sanara die Pflanzenfasern mit dem Finger nachfuhr, hatte sie das Gefühl, das Sterben der drei selbst zu durchleiden.
Ich hätte heute Nachmittag nicht eingreifen dürfen. Aber ich konnte nicht zusehen, wie Mehtid gefoltert wurde, ich konnte nicht wieder nur zusehen und mich verstecken!
Und doch ist er gestorben – und seine Familie mit ihm!
Plötzlich legten sich eisige Finger um ihren Arm und rissen sie hoch. Eine flache Hand landete so heftig auf ihrer Wange, dass Dunkelheit vor ihren Augen explodierte. Dann packten kalte, schweißnasse Finger ihr Kinn und zerrten daran.
Entsetzt sah sie in eisblaue Augen, deren längliche Pupillen dunkelgolden leuchteten.
Es war, als rolle eine Welle eisigen Wassers über sie hinweg. Sie rang nach Luft. Ihre Knie gaben nach.
»Sie ist es!«, zischte es direkt vor ihr. »Wir haben die Richtige. Ich wusste, sie ist stark genug, um unbehelligt diesen Dschungel betreten und Raqorblüten verbrennen zu können!«
Sanara versuchte, ihren Arm aus dem Griff zu befreien, in dem er so erbarmungslos gehalten wurde. Sie suchte nach dem Feuer in sich, doch es schien nicht mehr da zu sein, nicht mehr in erreichbarer Nähe jedenfalls, sondern so weit entfernt wie das Östliche Meer, in das der Lithon mündete. Ihr Oberarm war schon taub von der Kälte, doch nun schickte der Hauptmann ihr einen Schwall Eiswasser durch den Körper. Die Hitze, die sie gerade noch erfüllt hatte, entfloh durch ihren Oberarm. Ihr Blut schien zu gefrieren, rann immer träger durch ihren Körper, wärmte nicht mehr.
Wieder wurde ihr Kopf zur Seite geschleudert, und sie begriff, dass man sie wieder geschlagen hatte. Sie versuchte, die brennende Kälte, die sich von dort ausbreitete, wo die Faust sie getroffen hatte, zu ignorieren und ihr Seelenfeuer ausfindig zu machen. Als sie es endlich fand, bestand es nur noch aus einem lohgelben Funken, der von samtigem Dunkel begrenzt wurde.
Dann sah sie selbst diesen nicht mehr.
Sie hatte kein Zeitgefühl.
Um sie herum waren Stille, Düsternis, Kälte.
Nur ein magisches Licht, eine grünblaue Flamme mit einem goldenen Kern, leuchtete in der Mitte des Raums. Sie erhellte den Raum gerade genug, um mehr als die Hand vor Augen zu sehen. Das Gewölbe besaß kein Fenster, nicht einmal in der grob gezimmerten Tür.
Dennoch hätte Sanara lieber gar nichts gesehen als die Trostlosigkeit dieses Kerkers, der in den Sandstein des Felsens gehauen war, auf dem sich die Festung Bathkor erhob. Überall an den Wänden schimmerte Nässe. Auf dem Boden stand ein zerbrochener Krug, daneben lagen ein paar Halme verschimmeltes Stroh.
Die magische Flamme war kalt und hatte nichts mit den warmen Feuern zu tun, die Menschen zu entfachen vermochten und die sie zum Leben brauchten. Sie schien im Gegenteil jegliche Wärme, die freigesetzt wurde, aufzusaugen. Vielleicht war genau das auch ihr Zweck.
Noch nie zuvor in ihrem Leben war ihr so kalt gewesen.
Sie wusste nicht, wie lange sie bewusstlos dagelegen hatte, bis sie aufgewacht war. Der Hauptmann hatte ihr die Kraft vollständig und abrupt entzogen. Auch jetzt hatte sie Mühe, das Feuer in sich zu finden, aus dem ihre Seele bestand. Es brannte so schwach, dass es jeden Moment auszugehen drohte, und es kostete Sanara immense Kraft, es daran zu hindern.
Dennoch wurde sie von bitterem Zorn gepackt, der ihr fast die Kehle zuschnürte.
Wer gibt diesen verfluchten Elben das Recht, die Menschen so zu behandeln? Wir stammen wie sie von den Schöpfergeistern ab!
Wieder spürte Sanara, wie ihre Muskeln unkontrolliert zuckten. Sie wusste nicht, ob aus Wut oder Angst. Sie zog ihren Rock enger um sich und bedauerte, dass er nicht länger war. Nach ein paar Minuten ließ das Zittern nach. Doch vermutlich würde es bald wieder einsetzen.
Sanara wusste nicht, wie lange sie schon hier war. Wahrscheinlich waren es Tage, aber ebenso gut konnten es Stunden oder Wochen sein.
Sie war bewusstlos gewesen, als man sie hier hereingestoßen hatte, in einen Kerker, der kaum so groß war wie Ondras Küche. Dass sie hingefallen sein musste, verrieten ihr die schmerzenden
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