Dunkelmond
wieder von so weit her, als müsste der Ton Dimensionen und Zeiten überbrücken, um zu ihr zu gelangen. Der Klang der Stimme hallte jetzt im Gewölbe nach – oder war das Echo nur in ihr selbst?
Die Nebelfahnen, die von der Nische rechts ausgingen, wurdenzahlreicher, sammelten sich. Langsam, als seien sie unentschlossen. Als hätten sie Mühe, sich zu formen.
Und doch wurde die Gestalt fester.
Sanara stockte der Atem, als eine der Nebelfahnen sie erreichte. Sie war unendlich dünn, kaum zu sehen, und schien doch genug Substanz zu haben, um sanft wie Spinnengewebe über ihr Gesicht zu streichen.
Wer bist du, Dunkelmagier?
Sanara musste schlucken, um antworten zu können. »Ich … ich bin keine Magierin des Akusu.«
Die Stimme lachte. Es klang weder fröhlich noch höhnisch noch kalt. Es klang leblos und das jagte Sanara mehr Angst ein, als alles andere.
Die Kraft in dir leuchtet. Gelb wie das Feuer. Die Aura des Feuers ist dunkel wie Akusu selbst. Auch wenn du es nicht weißt, bist du eine Dunkelmagierin. Aber weißt du es wirklich nicht? Ich weiß, dass du mich siehst. Und das sollte dir Beweis genug sein.
Entsetzt starrte Sanara in die Dunkelheit. Der graue Nebel vor ihr wurde dichter, streckte mehr Arme nach ihr aus, während sie den Eindruck hatte, ihr würde noch kälter.
Die blaugrüne Flamme mit dem goldenen Kern schien größer zu werden.
Sie räusperte sich. »Ich weiß nicht, was du in mir zu sehen glaubst. Ich bin ein einfaches Schankmädchen.«
Nein, das bist du nicht. Die Stimme klang unerschütterlich und strich wie ein kalter Finger über ihre Stirn.
Sanara schüttelte halb ängstlich, halb unwillig den Kopf, doch er ließ sich nicht verscheuchen. Sie schloss die Augen und legte die Hände auf Stirn und Wangen, auf dass der Geist sie nicht länger berühre.
»Woher willst du das wissen? Du kennst mich nicht.«
Du bist geflohen. Ein Leben in ständiger Angst. Das spüre ich in dir ebenso wie deine Magie. Angst vor Schmerz und Verlust. Angst vor Strafe. Angst vor Entdeckung. … Was verbirgst du?
Sanara schwieg. Wenn sie nicht reagierte, verschwand der Geist vielleicht.
Lange Zeit war es still.
Als sie die Augen wieder öffnete, saß eine Gestalt vor ihr. Sie zerfaserte überall, schien ihre Form nicht halten zu können. Ein spitzes, hohlwangiges Gesicht, wahrscheinlich das einer Frau. Augen, die so tief in den Höhlen lagen, dass nur Lichtpunkte in einem Abgrund erkennbar waren. Fliegendes Haar, das dunkel sein konnte, aber vielleicht auch nur grau war. Finger, die nicht zu zählen waren, sich immer wieder auflösten und dann neu zu einer Hand zusammenfanden …
Sanara versuchte, ihr Entsetzen zu unterdrücken. Ein Gespenst. Und es hatte recht. Nur Seelenmagier sahen Geister – Abbilder der Seelen in der Realität.
Doch dieser Geist vor ihr war schwach. So schwach, wie es kein Dunkelmagier hätte sein dürfen. Die Seelenbilder, so hatten die Shisans Sanara gelehrt, gaben die Gestalt der Menschen und Elben für Seelenherren getreu wieder. Die Abbilder der Toten waren scharf und doch durchsichtig, in ihrem Inneren konnte man die Luftwirbel, die Feuer, die tiefen Seen und die festen Berge der Magie sehen, in ihren Augen leuchteten Funken in der Farbe ihrer Magie, so, wie im Leben.
Doch dieser Geist war anders, schwächer und haltloser, die Magie in ihm verwässert. Nichts war in ihm zu erkennen, auch wenn Sanara glaubte, in Brusthöhe des Geistes würden die Schwaden der Jenseitigen Nebel eine Art Welle formen.
Glaubte man den Shisans, hatten Elben manchmal ein solches Seelenbild.
Aber wie konnte ein Elb auch nur im Ansatz über die Magie eines Seelenherren verfügen, die doch ein Geschenk des Dunklen Mondes an seine Kinder war?
Du leuchtest hell wie ein Feuer auf dem Dunklen Mond , wisperte nun wieder die hohle Stimme. Ich habe nur selten eine solche Kraft gesehen!
Es klang, als sei der Geist neidisch.
Sanara machte trotz ihrer Verwirrung eine herrische Geste mit der rechten Hand. »Geh!« Sie fuhr durch den linken Arm der Gestalt wie durch Nebel, der verwehte, sich aber sofort wieder zu der Gliedmaße verdichtete.
Die Geisterhand kam auf sie zu und strich wieder über ihr Gesicht wie raureifbedecktes Spinnengewebe.
Wieder dieses vollkommen leblose Lachen. Du kannst mir nicht befehlen, Dunkelmagierin, wenn du deine Gabe leugnest.
»Wie kann ich etwas leugnen, das ich nicht besitze?«, erwiderte Sanara trotzig.
Für einen Moment loderten die Lichtpunkte in den Augenhöhlen
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